Home


Der langangehaltene Atem

http://www.hainholz.de/wortlaut/balaka.htm


Sabine Treude in der Volksstimme, 28. Dezember 2000

Die junge österreichische Autorin Bettina Balàka hat dieses Jahr, nachdem sie zuvor bereits durch ihre Gedichte aufgefallen war, ihren ersten Roman veröffentlicht. Es ist ein Roman, in dem sich Erinnerungen an gerade oder längst vergangene Liebesgeschichten mit Gesprächen, Telefonaten und dem Austausch von E-Mails kreuzen. Den E-Mails kommt dabei eine besondere Rolle zu, denn der Roman rekurriert auch auf dem Genre des Briefromans, von dem er gleichsam absetzt. Das Schreiben ist durch die Form des Mailens einer erheblichen Beschleunigung im schriftlichen Austausch ausgesetzt, wodurch der herkömmlichen Mittelbarkeit der Schrift eine Unmittelbarkeit verliehen wird, die sich vor allem zwischen den AbsenderInnen und EmpfängerInnen niederschlägt. Die Schrift im bewegten Bild kann neben der Botschaft zur spontanen Äußerung avancieren, die am aktiven Leben unmittelbar teilhat und es ohne den bisherigen Aufwand an Zeit spontaner mitbestimmt und prägt. Diese Teilhabe am Spontanen im "direkten" Austausch wird im Roman durch den stetig fliegenden Wechsel von E-Mail und erzählter Welt wiedergegeben und markiert den wesentlichen Unterschied zum Briefroman. Dem Briefroman bleibt der E-Mail-Roman jedoch auch verhaftet, sofern das Spontane nicht erzwungen werden kann und dem Schreiben nicht folgt, was der beschleunigte Transport des Geschriebenen versprach: eine ebenso rasche Antwort. Und so kommt die Protagonistin gar zu häufig, nur diesmal in ins Bild vertiefter Form, wieder genau dort an, wovon sie sich zu lösen suchte: dem Warten und seinen Zwängen.
" Sehr geehrter Herr! Vielleicht antworten Sie mir deshalb nicht, weil ich Ihnen zwar E-Mails, aber keine Zeichnungen geschickt habe. (...) Sehr geehrter Herr, vielleicht wollen Sie noch mehr sehen, ehe Sie mir wieder antworten.(...) Mein Auftraggeber schweigt, er schickt keine Satzblöcke in meine Mailbox, und je länger er nichts unternimmt, um unsere Verbindung fortzuknüpfen, desto öfter öffne und überprüfe ich meine Mailbox. Ein Seil, eine Leine ist eine stabile Verbindung. Zwei Ringe an zwei rechten Ringfingern getragen sind eine weniger stabile Verbindung. Hunderte Briefe sind die Wahnidee einer Verbindung." (S.90,91,94f.)
Zu dem Warten, was nicht neu ist, gesellt sich im E-Mail-Verkehr ein inzwischen schon gewohntes Ungewohntes, und zwar der Umstand, daß sich die Mailerin und der Mailer noch nie gesehen haben und trotzdem oder gerade deshalb die sog. Privatsphäre in ihr Schreiben mit einbeziehen. Genau dies tut jedenfalls die zentrale Figur und Ich-Erzählerin des Romans, die bildende Künstlerin A. Graziani. Sie erhält von einem unbekannten Auftraggeber via E-Mail den Auftrag, eine Reihe von Bildern mit ausgestopften Tieren zu malen und nimmt diesen Auftrag an. Dank der satten Überweisungen, die regelmäßig auf Grazianis Konto landen, entwickelt sich zunächst ein reger Mail-Austausch zwischen beiden. An diesem Austausch ist nicht nur interessant, daß immer mehr Privates und Persönliches geäußert wird, sondern überdies, daß diese Äußerungen jeweils von der Empfängerin bzw. dem Empfänger in Zweifel gezogen und nicht geglaubt werden. Denn gerade die strikt eingehaltene Unsichtbarkeit der PartnerInnen stimuliert die Phantasie hinsichtlich der unbekannten Person ebenso, wie ihr eine Inszenierung unterstellt wird. Die sich daraus ergebende Übertragung dessen, was man selbst tut, auf die andere Person, hat die Transformation der am Mail-Austausch beteiligten Personen in Figuren zur Folge. Im Roman bedeutet das, daß das eh schon figurative Personal des Romans sich auf einer anderen, direkteren Ebene nochmals und wiederum anders figuriert. Doch sind die Gestalten deshalb echter oder sind sie nicht eher gespenstischer geworden?
Eine gewisse Ähnlichkeit zu den ausgestopften Tieren drängt sich sukzessive auf. Das Fell und Gefieder bzw. die Haut bilden nun das ab, was gar nicht gesehen wird und unsichtbar bleibt, während die Füllung aus Erzähltem und Mitgeteilten anregt, das Äußere der Person zu formen. Und trotzdem bleibt eine Störung, nämlich die Unübersehbarkeit der Naht, die die Ich-Erzählerin bereits beim Anblick der ausgestopften Tiere irritierte.
" Ihr letztes E-Mail hat mich überrascht, denn plötzlich hat sich ein verschärftes Bild von Ihnen gebildet. Ich war plötzlich sicher, daß Sie nur mit Prostituierten schlafen können, denen Sie Namen und Kostüme verleihen, um jedes biblische Erkennen zu verhindern. Sie würden niemals wissen wollen, was in einer Frauenhaut wirklich alles steckt. Sie füllen Ihre Stoffe mit abgehackten Gliedern und flicken sich Ihre Fleischeswünsche aus den Resten zusammen, die übrigbleiben, wenn man vom Menschen die Menschlichkeit abzieht und ihn sich nimmt wie aus der Tiefkühltruhe für Geld."
Zwischen die schriftlich als E-Mail festgehaltenen detaillierten Darstellungen der ausgestopften Tiere, die die Protagonistin nachzeichnet, und den regen E-Mail-Verkehr, der den Roman durchzieht, drängen sich Skizzen des Alltags, der aus Gesprächen, Telefonaten, Briefen, Träumen und inneren Monologen besteht. Sie bestehen und bleiben, sofern sie im Roman jene Schnittstelle oder auch jenes Interface bilden, das aufgrund einer Fülle von Erinnerungen, die in es eindringen, auf das Persönliche kommt, ohne ihm eine fixe Kontur in Form eines mit Watte ausgefüllten Fells, das ein Tier verkörpern, oder einer mit Sprache ausgestopften postalischen Gewandes, das einen Mensch verkörpern soll, zu geben. Die Naht platzt auf und führt zu den Romanfiguren, die, in "Zeitstürzen", in "Gekröse" und in "Schwundstellen" wandelnd, dem Geist der Maske nachgehen und dabei leben und atmen.
Das Buch "Der langangehaltene Atem" stellt eine eindrucksvolle Hommage an Ingeborg Bachmanns "Malina" dar und ist nicht allein aus diesem Grund ausgesprochen lesenswert.



new books in german, spring 2001:

To open long-shut doors, to call up magical animals, and to scream so loudly that all obstacles shatter - such are the desires of the narrator of this poetic, densely written, highly rewarding first novel. The main action starts with an evocation of the scene from Alfred Hitchcock´s film The Man Who Knew Too Much that takes place in the taxidermist´s studio. Dead, stuffed animals fascinate the narrator. She is a painter who has received a commission from an unknown client to draw, at her own choice, some of the exhibits in the natural history museum in Vienna. While wandering from room to room she muses about her lover, Maximilian, who has broken up their brief affair - the latest in a long line of failed relationships.
The novel consists of her experiences in the museum, her chats with a gay friend, Alfred, always there to help when her lovers disappear, Venezuela, the colourful, larger than life transsexual, as well as letters, phone calls, and e-mail exchanges with her patron. Throughout the novel she is preoccupied with death. In many ways she would like to be preserved like the animals in the glass cases. Meanwhile her drawings will preserve at least part of herself.
The continued image is that of the title - breathing. The narrator is a heavy smoker. When her schoolfriends tried hyperventilation in their convent school to induce fainting (à la St. Teresa), she never dared to join in. Venezuela accuses her of being unable to relax since she cannot breathe deeply and evenly. When Alfred´s dream is fulfilled as he is appointed to design the costumes for Frank Wedekind´s Lulu, the narrator finds herself unexpectedly chosen to perform Lulu´s final scream, a part always performed by an actress since it would ruin the singer´s voice. This scream releases all her lifelong tensions, enabling her finally to see and appreciate the beauty around her.
Critics have already started to compare this novelist with the leading Austrian writers, particularly Ingeborg Bachmann. A remarkable debut indeed.



Carola Ebeling in Stint 27/2000:

Der Titel des Romans Der langangehaltene Atem gibt sein Leitmotiv vor - als Metapher und zugleich konkreter körperlicher Vorgang taucht das Atmen immer wieder auf, und erzählt wird dabei vom Überleben: Variation eines vertrauten Themas bei Balàka, mit dem sie bislang noch nie in eine selbstmitleidige Betroffenheitsprosa abgeglitten ist. In ihrem ersten Roman verwebt sie persönlichste Erfahrungen ihrer Protagonistin mit allgemeineren Reflexionen über Liebe, Geschlechterverhältnisse, Wissenschaft, Kunst und die zeitgenössische Machbarkeit des Lebens, führt beide Ebenen immer wieder zusammen. Keine sich selbst genügende kluge Gedankenspinnerei, die ihren Ausgangspunkt und Anlaß, das Lebendige, zu einem grauen Gehirnbrei verrührte.
Was einer den Atem abzuschnüren droht: die Liebe - ein zentrales Motiv des Buches, und früh erfahren die Lesenden von der gegenwärtigen Verstrickung der Erzählerin, die ein gegenwärtiges Liebenwollen ist, das aber zurückgewiesen wird.
Das Liebesthema findet seine Variation in den Briefen Léas, einer Freundin. Auch in ihren Liebesversuchen ein Aneinandervorbeireden, vorhersehbare Verhaltensweisen, weil das alles nicht zum ersten Mal geschieht. Und ein Erinnern, dem zu entrinnen zuweilen eine Erleichterung wäre. Daß eben dies nicht gelingt, beschreibt die Autorin in dichten und fantasievollen Bildern, so daß sie nur wenige Worte braucht, vieles anzurühren. "Aber Julien, ich wollte ihn ja verdrängen, wie man sagt, mit meiner ganzen Vorwärtskraft ins Wasser springen und das Wasser verdrängen, und überall an mir hängt in Tropfen Julien." Balàka vereint in ihrem Roman verschiedene Sprech- bzw. Schreibweisen, aber immer wieder und oft genug stößt man auf diese poetischen Kleinode.
Die Bedrohung, die von der ordnungssprengenden Kraft der Liebe ausgeht, steht jedoch nicht für sich allein. Sie fügt sich in einen Umgang mit der Welt, der auf Ein-Ordnung und Etikettierung aus ist. Balàka verhandelt das anhand der Wissenschaft, der Kunst, der Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Für einen anonym bleibenden Auftraggeber malt die Erzählerin ausgestopfte Tiere ab. Im Naturkundemuseum gibt sich das Tote den Anschein des Lebendigen, und das im Namen der Wissenschaft abgetötete Lebendige erfährt seine Etikettierung und Kategorisierung. Es scheint, als setzte sie sich dieser unheimlichen Welt des Toten aus, um von diesem Ort aus umso genauer beobachten zu können - denn was hier offensichtlich betrieben wird, ist allzu oft auch Basis der gesellschaftlichen Spielregeln. Das Entweder-Oder, die eindeutige Sicht verweigert im Hinblick auf die Geschlechter ihre transsexuelle Freundin Venezuela. Als biologischer Mann meint sie es ernst damit, als Frau zu erscheinen, und mag sich doch nicht der Operation unterziehen, die die Zweideutigkeit am Körper beseitigen, Ordnung in das Durcheinander bringen soll, welches die "Natur" sozusagen irrtümlich verursacht hat. Diese somit körperlich faß- und sichtbar gewordene Grenzverletzung ruft nicht nur Irritation, sondern offene Aggression hervor. Eine einmal überschrittene Grenze bedroht die Geltung vieler anderer, darin liegt für die meisten immer noch eine Zumutung - die Aggression wird dem unterstellt, der die eigenen, oft eng abgesteckten Lebensmöglichkeiten fragwürdig werden läßt.



Wilfried Prantner in www.faz.net, Januar 2001:

Balàkas Roman erzählt die erlebten, erlesenen oder geträumten Lebens- und Sterbegeschichten zu großen Teilen in einer Serie von E-mails, Telefonaten und Gesprächen, über die sich die Zeichnerin mit dem Auftraggeber, ihrem schwulen Freund Alfred, der enzyklopädisch gebildeten Transsexuellen, Venezuela, und der in Südfrankreich ihr Glück suchenden Freundin Isabelle austauscht. Zusammen mit den Arbeitsbeobachtungen, Traumberichten und Erinnerungen der Ich-Erzählerin komponiert Bettina Balàka daraus ein motivisch dichtes, in einer kühlen und zugleich emotional geladenen Prosa geschriebenes Textgeflecht, aus dem sich allmählich das Porträt einer Frau herausschält, die angesichts der sie umgebenden Surrogate einen „Weltgenuss"-Vorbehalt hegt und von einer „Aufführungsängstlichkeit" befallen ist.

Alfred und Venezuela, beide tiefe Verehrer der Verkleidungskünste von Wedekinds Lulu und souveräne Vertreter einer schwierigen Lebenskunst, sind ihre Ratgeber und Führer bei der Überwindung dieser Angst. Alfred ist es auch, der ihr rät, den seltsamen Auftrag im Museum anzunehmen. „So kommst Du, sagt er, wenigstens unter Tiere".

Während sich nun die Ich-Erzählerin, anfangs zögerlich, später immer ergiebiger durch die „von Stillstand zerzauste", farblose Welt der über „Nacktmodelle" drapierten „Dermoplastiken" zeichnet, von den Säugetieren absteigend zu den Fischen, lässt sie rückläufig auch die Galerie ihrer verflossenen Liebschaften Revue passieren, allesamt sportliche, wohlbestückte Jungs, wie aus der Werbung entsprungen, aber liebesunfähig. Den letzten davon versucht sie gerade zu Beginn des Auftrags zu vergessen. Dafür lässt sie sich mit dem Auftraggeber, der wie sie daran leidet, dass die Welt erstarrt und ihre Farbe verliert, auf ein E-mail-Versteckspiel ein, in dessen Verlauf sie einander Bruchstücke ihrer erfundenen oder wahren Familiengeschichten und Alpträume erzählen und die Ich-Erzählerin vom Fortgang ihrer Arbeit berichtet. Sie erfüllt damit, wie mit den immer üppiger sprudelnden Zeichnungen, den vampirischen Wunsch des Auftraggebers, an ihrer Kunst und an ihrem Leben zu partizipieren.

Währenddessen rückt das Glücksversprechen des Südens, das Isabelle als Léa in Marseille zu leben versucht und das A. Graziani anfangs selbst erwogen hatte, in immer weitere Ferne. Und wird umso klischeehafter, je weiter es sich entfernt. Sogar die Briefe, in denen Isabelle davon berichtet, kommen schließlich nicht mehr per E-mail, sondern sind von Hand auf immer unscheinbarer werdendes Papier geschrieben.

Die Kunst des richtigen Atmens, die man für Tauchgänge in die Unterwasserwelt oder ins Unbewusste benötigt, oder die einen in Ohnmacht oder Verzückung fallen lässt - erst hyperventilieren, dann den Atem anhalten -, hat A. Graziani nie gelernt. Und was die diesbezüglichen Unterweisungen Venezuelas fruchten, kann hier nicht verraten werden.

Wie aber die Autorin diese Technik verwendet, das hält einen unbedingt in Atem. Unter der überlegten Konstruktion dieses Buches und dem distanziert lakonischen, nur gelegentlich in Schwabismen ausfransenden Stil dieser Prosa stauen sich überall die gebändigten Ekstasen, die jeden Moment auszubrechen drohen, so wie die ausgestopften Tiere in den Museumshallen. Das macht die Lektüre dieses intelligenten Romans, der einem nebenher, ganz unaufdringlich, auch etwas über unsere Existenz zwischen den Oberflächen der modernen Medienumwelt erzählt, zu einem wirklich spannenden und genussvollen Erlebnis.


Christina Kweta in ORF Online, 8. März 2000:
http://www.orf.at/orfon/kultur/000307-3082/3084txt_story.html


Petra Ganglbauer in gangway, 31.Mai 2000:
http://www.gangway.net/reviews/balaka.html



Hubert Lengauer in kolik 13/2000:

Eine gewisse "Graziani" wird per e-mail beauftragt, Tiere aus dem Naturhistorischen Museum zu zeichnen, gegen großzügiges Honorar. Diese Fern-Beziehung zu einem "fremden Freund" schließt die Ich-Geschichte auf, öffnet die Erinnerungen an Männerbeziehungen, deren Spuren sich in Schubladen oder als Dateien abgespeichert finden.
Es sind allesamt "unglückliche" Liebesgeschichten, von denen die (zeitlich) nahestehendste zu einem abweisenden "Max" den melancholischen Unterton liefert, den Phantomschmerz, während die übrigen, entfernteren, zunehmend absurder erscheinen. "Ich lache, und der Max-Gedanke liegt wieder wie ein feuchter Eisbeutel ganz oben auf meinem Gehirn, nicht weil er an sich so eine große Gefriermacht besäße, sondern weil er nur die Wiederholung eines Erich-Gedankens, eines Jakob-Gedankens, eines Klaus-Gedankens ist, die Geschichten verästeln und verähnlichen sich, und die Äste, die unten absterben, treiben weiter oben am Stamm unter anderem Namen wieder hinaus."
Der eine ist bekennender Polygamist, der andere ein Zyniker und läßt sie mitten am Berg stehen, der dritte fordert eine Brustvergrößerung. Sie sind, indem sie Konformitätszwänge als je bestimmte Idiosynkrasie (von ihnen wohl als individuelle Note gesehen) austragen (oder von der Frau austragen lassen), alle nicht ganz dicht, am "normalsten", "vernünftigsten" sind noch der schwule Theatermann Alfred, die Drag Queen Venezuela, der (vielleicht fiktive, vielleicht querschnittgelähmte) Auftraggeber; von ihnen kommen die besten Ratschläge, die einfühlsamsten Verhaltensweisen, die schönsten Geschichten. "Mein Auftraggeber schreibt: Liebe Alexandra, ich könnte Ihnen niemals böse sein. Schon allein aus dem Grund, weil es mich gar nicht gibt, weil Sie jemand anderen meinen, weil ich Sie gezwungen habe, mich zu erfinden, und weil Ihre Rebellion vollkommen vergeblich ist."
Der Auftraggeber ist aber gut erfunden (mindestens so gut erfunden, wie jene Männer "realistisch" sind), und auch der Auftrag. Es entsteht unter den Händen der Erzählerin / Zeichnerin ein Bestiarium aus meist schon etwas schäbigen und in dieser Schäbigkeit abgezeichneten Exponaten, in einem Haus, dessen Fassaden- und Figurenschmuck Frauen als Allegorien, Männer als Forscherköpfe sind.
Dem imaginären Männer-Museum im Kopf mit seinen behämmerten, beriebenen, beschädigten Exponaten entspricht (in unaufdringlicher, assoziativer Verknüpfung) das Naturgeschichte-Museum in der Wirklichkeit mit seinen Wärtern, Schulklassen und grotesken Anordnungen. Beide Museen archivieren "unsere" Natur, die Natur unserer Beziehungen, unsere Beziehung zur Natur. Und das ist lange nicht alles, was in dem Buch zu finden ist. Es gibt eine Mutter-Tochter Beziehung, die ins Herz der Finsternis führt, zum unbegreiflichen, unbegriffenen Selbstmord der Mutter, die von der auferlegten Selbständigkeit handelt; wie eine Kontrafaktur dazu eine zweite Mutter/Tochtergeschichte, die scheinbar ins Helle führt, zu einem (nach all den Wirrungen der Tochter) Versöhnungs-und Erholungsflug in den Orient, beide Geschichten kann man gespiegelt sehen in dem ausgestopften Nashornkind und seiner möglichen Geschichte: "in einem Korsett aus Seilen […]
Wie es in einer Kiste eingenagelt wird, aus der es wochenlang nicht herauskommt. Wie es sich nach seiner Mutter sehnt (die erschossen wurde), nach freien Gliedern, nach einem Ausblick und Wasser." Das Buch berichtet in einem von unserer tierischen Natur und unserer Unmenschlichkeit, zu deren Preis Museen (auch Foltermuseen) errichtet sind. Es ist melancholisch, morbid und nekrophil indem es die zivilisatorischen Einrichtungen zeigt, die sich die Gesellschaft für ihre morbide und nekrophile Art der Naturbeherrschung einrichtet.
Die Melancholie ist klug und selbstironisch und spielt auf allen Ebenen mit der Kunst, als einer Konstruktion, welche Realität in einem umfassenden Sinn darstellt. Der Prolog beginnt mit dem größten pathetischen Anspruch: "Eines Tages möchte ich so schreien, daß alle Hindernisse zerklirren". Kurz vor dem Epilog wird dieser Anspruch eingelöst, ironisch freilich: die Erzählerin erhält eine "Schreirolle" in der Oper Lulu, der befreiende Schrei wird in der künstlichsten aller Formen inszeniert. Das trifft sich mit der Beendigung ihres "Auftrags" der Tierbilder.
Die Zeit dieses Auftrags war der "langangehaltene Atem" (mit den Erinnerungen, Reflexionen), der ihr diesen "realitätsgesättigten", "opernhaften" Schrei ermöglicht und sie also zur Kunst befähigt. Der Epilog kann daher kompensatorisch und resignativ bleiben, bei der "Lebensfreude, die in kleinen Butterbroten hockt", bei der "kleinen Freude in den Zehen auf einem frisch aufgerauhten Handtuch, im Augenwinkel, der den eigenen schönen Hüftschatten sieht, das ist alles, und ab und zu ein Traum auf der Zunge, eine vorgestellte Stimme im Ohr".
Das Netz von Assoziationen und Widersprüchen bleibt so dennoch erhalten, die Künstlichkeit der (unserer) präparierten Natur, einer Natur aus Viechern, Männchen und Weibchen und Männern und Frauen und Natur und Kunst bleibt gerade durch die spielerische Gestaltung provokant. Das Paradox, daß in einem unprätentiösen, schmalen Buch so viel Kluges "drinsteht", löst sich nur, wenn man die Vielfalt und Raffinesse der auf einander bezogenen Formen wahrnimmt, durch die "Themen" hergestellt und Assoziationsräume, riesig wie Museen, mit Fassaden, Innenräumen, Labyrinthen, Alpträumen aufgetan werden. Man muß es wieder lesen.



Birgit Schmid in der Neuen Luzerner Zeitung, 30. März 2000:

Feministische Literaturkritik brachte in den Achtzigerjahren einen Geschlechterdiskurs in Gang, der sich einerseits zur Aufgabe machte, die von Männern entworfenen literarischen Frauenbilder auf ihre historische Bedeutung sowie die soziale und ästhetische Funktion hin zu entschlüsseln; andererseits in der Literatur von Frauen nach Inszenierungen von Weiblichkeit und verdeckten Selbst- und Wunschbildern zu forschen. Der Erstlingsroman "Der langangehaltene Atem" der österreichischen Autorin Bettina Balàka ordnet sich in diese Tradition der so genannten "Frauenliteratur" ein.
Zur Reflexion über das Verhältnis von Mann und Frau und dessen Wandel, die Selbst- und Fremdbestimmung im Laufe der Kultur- und Zivilisationsgeschichte, ist die Icherzählerin allmorgendlich durch ihre Arbeit gezwungen, auf dem Weg ins Naturhistorische Museum: "Ich weiß, daß auf der Kuppel des Museums der Sonnengott Helios steht. Ich weiß, sobald ich die Schilder gelesen habe, wohin die Türen führen und wie man die Ausstellungsstücke bezeichnet. Man kann nie genug wissen. Die Gelehrsamkeit richtet sich prächtige Häuser ein, die sie zu bestimmten Zeiten auch öffnet.
An den Außenwänden ist der Aufstieg der Wissenschaften im Figurenzierrat verewigt: die weiblichen Körper sind Allegorien, die männlichen Köpfe sind Forscher." Ein anonymer Auftraggeber bittet die Malerin A. Graziani darum, im Museum ausgestellte Tierpräparate gegen Bezahlung abzuzeichnen. Die Aufträge und Antwortbriefe, die vom Prozess des Arbeitens an Braunbär, Elch und Mähnenwolf erzählen, strukturieren den Roman in Form von E-Mails.
Darin gibt die Erzählerin leise ihre Faszination und Skepsis preis - Aufklärungskritik, Hinterfragen des anthropologischen Sammlerwillens und des Konservierungszwanges sind unüberhörbar. Der Auftraggeber hingegen ist mehr angeregt vom gegenseitigen Unkenntlichbleiben. Er fantasiert Namen und biografische Umstände seiner Arbeitnehmerin, die erkennt: "Sie hängen mich an ihren Wort- und Geldfäden auf und lassen mich tanzen." Die Künstlerin ist Projektionsfigur und zeigt, durch eigentümliche Vagheit auch sonst im Leben, eine starke Anpassungsfähigkeit an die entworfenen Bilder. Die Frau und die gezähmte, verwertete Natur: Dieser Topos der Kulturgeschichte tritt in Balàkas Roman explizit in der literarischen Lulu-Figur auf, ein Leitmotiv in der Geschichte und immer wieder Gegenstand von Diskussionen zwischen der Erzählerin und ihren Freunden. Die Ambivalenz von Frank Wedekinds Tingeltangelmädchen, das, ganz Triebwesen, einerseits die Männer verschlingt, andererseits von ihnen ausgebeutet und nach ihrem Wunschbilde geformt wird, kommt als Konflikt von Natur und Kunst in der Museumsarbeit der Erzählerin zum Ausdruck.
Andererseits ist die Erzählerin selbst dem "schönen Tier" Lulu nicht unähnlich; in ihrem Verhältnis zum Auftraggeber, ihrer Hingabefähigkeit und Willenlosigkeit. Auch in der Liebe. "Die kann von der Liebe nicht leben, weil ihr Leben die Liebe ist", heisst es von Lulu, und so stimmt es auch für den Absolutheitsanspruch der Erzählerin. Sie scheitert an den Superfrauen-Fantasien der Männer. Zu einem Selbstbild kommt die Erzählerin nicht. Dies erschweren ihr gleichsam die schrille transsexuelle Freundin Venezuela ("so viel Weiblichkeit raubt mir den Körper") und der engagierte schwule Alfred, der ihr "kein gesundes Lebensinteresse" attestiert: "Du mußt dir ein Interesse in dein Leben flicken, erst dann bist du eine Persönlichkeit, und nicht nur eine Person. Du mußt achtgeben, daß dein Schicksal nicht in ein Rinnsal verläuft.
Du mußt Freude und Freunde um dich zingeln, du mußt so erfüllt werden, daß dich ein kräftiger Ausdrucksdrang bläht. Du mußt dir einen Willen anfertigen! Du mußt dir ein Programm nähen!" An dieser Stelle kehrt sich das Scheitern der Erzählerin an Lebensansprüchen plötzlich in lebensbejahende Verweigerung. Und als der Museumsarbeitsvertrag gekündigt wird, wird auch die (doppelte) Abbildungsfähigkeit abgestreift. Es ruft eine neue Aufgabe. Die Tragödie "Lulu" kommt in der Stadtoper zur Aufführung, und die Erzählerin übernimmt die "Schreirolle" für die sich schonende Hauptdarstellerin.
Der Todesschrei der Lulu angesichts des Messermörders Jack the Ripper ist das Ende des lang angehaltenen Atems und des Atemholens: die Befreiung von fremden Bildern. (...) Balàkas Darstellungen von Weiblichkeit, Sexualität und Kunst wohnt ein latentes Gewaltmoment inne, in der obszönen Bildlichkeit an Elfriede Jelinek erinnernd. Überhaupt gibt es in diesem Romandebüt mannigfache Bezüge zu zeitgenössischen österreichischen Autorinnen.
Ä hnlich lakonisch-unerbittlich schreibt Marlene Streeruwitz von der weibliche Befindlichkeit im Heute. Und natürlich ertönt die Stimme der grossen Ingeborg Bachmann, wenns um das Aufdecken von subtilen alltäglichen Gewaltformen am Subjekt und besonders im Verhältnis der Geschlechter an der Frau geht. An Bachmanns Roman "Malina" erinnert dann auch das brieflich-mysteriöse Auftragsverhältnis und der atemlose und erschöpfte Gestus der Icherzählerin. Daneben werden zahlreiche andere Fäden zu literarischen Vorbildern und Traditionen gespannt. (...)



Helmut Kretzl in der Wiener Zeitung, 21. April 2000:

Am Beginn steht das Verlassenwerden und die Einsamkeit. Die Protagonistin, eine Zeichnerin von Tierbildern, zieht sich nach der Trennung von ihrem Partner ins Schneckenhaus zurück. Ein anonymes E-Mail reißt sie aus ihrer Lethargie, der Absender beauftragt sie mit dem Zeichnen ausgestopfter Tiere im Wiener Naturhistorischen Museum.
Der sich daraus entspinnende elektronische Kontakt bildet das Rückgrat des Textes, der sich in mehrschichtiger Weise mit menschlichen Beziehungen auseinandersetzt und dabei auch Kunst, Identität und moderne Mediennutzung thematisiert. Als moderner Briefroman gibt das Buch die Kommunikation der Zeichnerin mit ihrem geheimnisvollen Auftraggeber, ihren Freunden und (Ex-)Partnern als E-Mail, Brief oder Gespräch wieder, eingeflochten sind Erinnerungen, Gedanken und Träume. Die düstere Grundstimmung der Geschichten über zerbrochene Beziehungen, misshandelte Tiere, Verletzungen und Missverständnisse wird immer wieder aufgehellt durch Ironie und einen Schuss Sarkasmus.
Der letzte Überlebende eines Indianerstammes verliert seine Existenzgrundlage durch die Sammelleidenschaft der Forscher und endet im Museum, wo er die Schöpfungsgeschichte seines Stammes in den Phonographen spricht - in einer Sprache, die außer ihm kein Mensch mehr beherrscht. Nicht nur um das Verhältnis von Männern und Frauen zueinander geht es hier, sondern die Geschlechterrollen selbst werden zum Thema. Unterschiedliche geschlechtliche Identitäten und Inszenierungen stehen einander gegenüber. Da ist etwa der homosexuelle Alfred, ein Feminist mit Hausfrauenambitionen. Die inszenierte Weiblichkeit der transsexuellen Venezuela, die früher Hans hieß ("sie geht im Paßgang mit glänzenden Beinen, die Strümpfe wie von Toulouse-Lautrec"), lässt die Heldin ihr eigenes Frau-Sein hinterfragen. Der geheimnisvolle Auftraggeber verkörpert als Jäger ein klassisches Männerbild. Mit seinem Geld "überzeugt" er die Zeichnerin, wird für sie zum "Gönner und Forderer".
Immer wieder taucht der Mythos von Lulu auf, jener schillernden Frauenfigur zwischen Täter und Opfer, Natur und Kunst. Wie in ihren vorangegangenen zwei Bänden mit Erzählungen hat die literarische Allrounderin Bettina Balàka in Der langangehaltene Atem ein verdichtetes, beziehungsreiches Textgewebe gesponnen, das gleichermaßen lyrische und dramatische Qualitäten aufweist und deren Symbolgehalt mehr als eine Deutung zulässt. Balàkas Prosa ist anspruchsvoll und ungekünstelt, Berührungsängste mit der Trivialkultur kennt sie nicht: Da gibt Kleinformat-Beziehungshelferin Gerti Senger Ratschläge, da trällert Fernsehwerbung vorüber, Filmausschnitte dienen als gemeinsame Erfahrungskulisse.
Mit präziser Beobachtung analysiert Balàka sprachlich souverän die subtilen Mechanismen zur Erzeugung von Abhängigkeiten. Geschlechterspezifisches Rollenverhalten wird schonungs-, aber nicht humorlos aufs Korn genommen. Die Protagonistin bleibt nicht in der eigenen Betroffenheit stecken. Am Ende steht der befreiende Schrei der Erlösung.



Angela Gutzeit in Freitag, 5. Mai 2000:

" Eines Tages möchte ich so schreien, daß alle Hindernisse zerklirren", heißt es im Prolog zum Roman Der langangehaltene Atem. Nun ist die Erzählerin der österreichischen Schriftstellerin Bettina Balàka kein zweiter Oskar Matzerath. Ihre vergeblichen Versuche, der Spirale aus weiblicher Sprachlosigkeit und männlichen Zuschreibungen, aus Todesphantasien und Angstträumen zu entkommen, erinnern eher an Ingeborg Bachmanns Malina.
Nach zwei Erzählbänden liegt nun dieser erste Roman der 1966 geborenen Bettina Balàka vor. Es ist ein kunstvoll aus Briefen, Gesprächen, Erinnerungen und Reflexionen komponiertes Buch. Und wie schon in ihren Erzählungen verweigert sich Balàka auch hier jedem stringenten Handlungsablauf. Es passiert in dieser Prosa im äußerlichen Sinne wenig.
Eher kann man davon sprechen, dass die Autorin Bewusstseinszustände ihrer Figuren transparent machen will, psychische Befindlichkeiten, die sich in verschiedenen Rollen und Lebensentwürfen präsentieren. Als Personen werden die Figuren kaum kenntlich. Es sind oszillierende Existenzen, die in einem Fall ihr Geschlecht gewechselt haben, in einem anderen je nach Lebenslage ihren Namen. Sie offenbaren sich, um aber im nächsten Augenblick ihre Spuren zu verwischen oder einfach zu verschwinden. Die Angst vor dem Verschwinden wie auch das nicht selten verzweifelte Begehren, sich als (weibliches) Subjekt zu konstituieren, im Leben eine Verankerung zu finden - sei es durch die Kunst oder durch die Liebe - sind zentrale Motive in diesem schwierigen, aber auch faszinierenden Roman der österreichischen Schriftstellerin.
Bettina Balàkas Roman spielt in Österreich und das ist - wie schon in vielen ihrer Erzählungen - nicht unwesentlich für die Befindlichkeit ihrer Figuren. Österreich, so schwingt es im Text immer mit, das ist dieser Sumpf aus Spießigkeit und dumpfen Vorurteilen, aus versteckter Brutalität und katholisch geprägter Lust an Strafe und Vergehen. Der einzige konkrete und durchgängige Handlungsort in diesem, hinter aller Idylle unheilschwangeren Land ist entsprechend düster: Ein Naturwissenschaftliches Museum, auf dessen Stufen die Erzählerin zu Beginn sitzt und über den Verlust ihres Geliebten Maximilian nachdenkt.
Es sind nur wenige zarte Striche, mit denen die Dimension dieser Beziehung angedeutet wird, und doch entfalten sie eine Aussagekraft, eine Wucht, die an Balàkas Prosa immer wieder betört. Zärtlichkeit, Liebesglück und Schmerz liegen eng beieinander, wenn sie schreibt: "Zarte Nabelschnecke. Die Blinddarmnarbe, eine überstandene Wandlung. Atmender, lebendiger Bauch." Ein paar Sätze weiter der Absturz: "Als Max sagte: Ich fürchte ich muß dich enttäuschen, da war mir, als hätte er Erde über mich geschaufelt." Das Begrabensein, das Gefühl, seelisch zu versteinern, korrespondiert aufs engste mit der Innenwelt des Museums, das sich die Erzählerin nach und nach zeichnend erschließt. Sie hat per e-mail von einer anonym bleibenden Person den Auftrag erhalten, die präparierten Tiere dieses Instituts zu zeichnen und ihr gegen Bezahlung zuzusenden. Nach eigener Behauptung handelt es sich um einen Mann fortgeschrittenen Alters. Die Erzählerin verstrickt sich immer mehr in diese Tätigkeit. Das, wie sie sinniert, von männlichem Forscherdrang kreierte Institut erscheint ihr zunehmend als ein "Mordmuseum", eine makabre Ansammlung erstarrter, vergewaltigter Natur.
Sie zeichnet Affen, die ihre Haut tragen "als lebenslängliche und tödliche Kostüme", Fische, die wie "geschminkte Leichen" präpariert sind, und aufgespießte, "schockgefrorene" Vögel. Dem Wesen dieser entstellten Natur nahezukommen, wird der Zeichnerin zur Obsession. Sie entblößt dadurch - ganz gegen ihren Willen, für den Auftraggeber unfassbar zu bleiben - nach und nach ihre eigene verletzte Seelenlandschaft.
" Ich denke", schreibt sie an den anonymen Herrn, "die Aufgabe der Kunst ist es, aus dem Leben eine Melodie herauszusägen, eine Folgerichtigkeit. Aus Chaos und Verwirrung einen Faden zu ziehen, ihn zu verhäkeln zu einem Gewebe, zu Akkorden und Harmonien und Mustern." Verwoben wird hier die geschundene Natur mit der weiblichen Erfahrung von permanenter Beschädigung und Erniedrigung. Die Erzählerin wird von "Rasierklingen- und Glassplitterträumen" heimgesucht, in denen immer ein "Zerstörer" anwesend ist. Und in ihren Erinnerungen häufen sich die gescheiterten Beziehungen zu Männern und verdichten sich zu der Erfahrung, dass Menschen aus ihrem Leben einfach verschwinden - wie ihre Mutter, die sich in ihrer Kindheit das Leben nahm.
Verständigung scheint nur möglich zu sein mit ähnlich suchenden und beschädigten Existenzen: Venezuela, die Transsexuelle, die vorher Hans hieß und jeden Tag aufs neue ihre gewandelte Identität gegen eine feindliche Umgebung behaupten muss; Alfred, der homosexuelle Kostümbildner und Feminist, der in Wedekinds Lulu sein unerreichbares Ideal erkennt; Isabelle, die wie die Erzählerin von einem Mann verlassen wird. (...) In ihrem Roman finden sich immer wieder dichte, ruhig erzählte Passagen, die im Bewusstsein des Lesenden lange nachwirken. Am Schluss des Romans zum Beispiel steht ein wirkungsmächtiges Bild: Alfred, der schwule Freund, vermittelt der Erzählerin eine Rolle in einer Operninszenierung von Wedekinds Lulu. Aus dem Hintergrund, für niemanden sichtbar, hat Balàkas Protagonistin am Ende jeder Vorstellung nur eins zu tun, einen markerschütternden Schrei auszustoßen: Es ist der Todesschrei der ermordeten Lulu. Wie endet Bachmanns Malina?
Das weibliche Ich verschwindet in einer Wand. Nur ein Schrei ist noch zu hören. Und der letzte Satz lautet: "Es war Mord."



Anton Thuswaldner in den Salzburger Nachrichten, 3. Juni 2000:

Sie ist eine Erzählerin, die es faustdick hinter den Ohren hat. Erzählen allein genügt ihr nicht, sie will mehr. Bettina Balàka nimmt Geschichten zum Anlass, um draufzukommen, was sich im Reich der Menschen abspielt, in deren Herzen, in deren Gefühlen, in deren Bewusstsein.
Sie arbeitet sprachbewusst und lässt sich keine Flüchtigkeiten durchgehen. Menschen sind nicht nur unverwechselbare Charaktere, sie sind gefangen in einem System von Inszenierungen, sie sind nie nur sie selber, sondern auch Vertreter einer Haltung.



Janko Ferk in Der Presse, 10. Juni 2000:

Mit formalisierter Theorie ist diesem Buch nicht beizukommen, weil es viel zu viel Dynamik in sich hat. Die Vitalität dieser Prosa setzt die Regeln der Poetologie außer Kraft, in einer Art, wie es zuletzt nur wenigen gelungen ist. Gewarnt sei, daß dieses Buch keine Antworten gibt; es macht nur Angebote; es bietet die Möglichkeit, eine besondere Perspektive einzunehmen. Der Leser kann sich an Sprachspielen sowie Deutungen beteiligen und in eine postmoderne Fiktionalität einsteigen.
Dieses Buch, das "den Dingen die Farben zurückgibt", liest man am besten mit dem Bleistift. Unvermittelt stehen Sätze da, die so originell sind, daß man sie unterstreichen möchte.
Die Erzählerin im Roman der 1966 in Salzburg geborenen Autorin teilt sich brieflich mit. Sie mailt, wie es heute modern und üblich ist. Die Hauptfigur ist Malerin und steht in Briefwechseln mit einem anonymen und bis zuletzt unbekannten Auftraggeber, daneben mit Freundinnen und Geliebten. Geschrieben wird über Kunst, Liebe und Geschlecht, wobei sich die Autorin als auf vielen Gebieten gebildet erweist; enorm ist das naturwissenschaftliche Wissen. Sie formuliert poetische Gebrachsanweisungen für den Alltag. Dabei ist ihr "die Gewahrwerdung der Gegenwart" wichtig.
Trotzdem weiß die Erzählerin, daß Kunst niemanden beschützen kann und nichts Läuterndes an sich hat. Balàka erzählt über die Mediengesellschaft, schreibt von "Kuriositäten ohne praktischen Wert", gibt Landgeschichten wieder, läßt etwas über eine Erbschaftsfehde wissen und macht ihre facettenreiche Prosa an vielen Stellen mit Sätzen über den Sex bunt. Kurz, sie erzählt über "Entrückung, Verzückung, Traum". Dabei sind "an manchen Tagen die Sterne bewölkt". Die Autorin zieht an Tausenden Fäden; sie beherrscht das Kreuzen und Verflechten; als der polychrome Prosateppich aus wortreicher Sprachlichkeit gewebt ist, kann es schließlich nur noch heißen: "Irgendwann ist der letzte Brief geschrieben, auf den keine Antwort mehr kommt." Erst dann kann man den Atem loslassen, das Buch ist zu Ende. Und die Spannung.



Werner Schandor in schreibkraft 4/2000:

" The trick is to keep breathing", empfehlen die Briten lakonisch, wenn jemand an einem Schicksalsschlag laboriert. Ein Tip, dem die Protagonistin in Bettina Balàkas neuem Roman Der langangehaltene Atem nur schwer nachkommen kann. "Ich rauche zuviel. Ich atme zuwenig." Atemlos versucht sie ihr Leben in den Griff zu kriegen.
Nur langsam kommt man drauf, was ihr eigentlich den Atem nimmt. Vordergründig ist der Anlaß, daß sie nach einer kurzen Affäre von einem Mann namens Max verlassen wurde. Irgendwann erfährt man aber, daß es nicht wirklich um Max geht, daß es auch schon eine Reihe Erichs, Jakobs usw. gab, kurzum: daß die Beziehungskiste keine Tragödie, sondern eine Banalität ist.
In tieferen Schichten brütet die Protagonistin über zwei anderen Themen: die Frage nach der (weiblichen) Identität und - auch nicht ohne - die Frage nach dem Tod. Beide aus einer radikalen Position betrachtet, die oft an die Todesarten-Texte von Ingeborg Bachmann erinnern, jedoch ohne sich dem Bachmannschen Todestaumel hinzugeben. Doch halt, fangen wir von vorne an. Wir wissen bisher nicht einmal, wie die Protagonistin heißt, und sie scheint es selbst nicht zu wissen.
Fest steht: Ihr Familienname lautet Graziani, und sie ist Malerin. Sie wohnt allein in Wien, und für einen unbekannten Auftraggeber, der mit ihr via E-Mail kommuniziert, zeichnet sie im Naturhistorischen Museum ausgestellte ausgestopfte Tiere ab. Ihre beste Freundin Isabelle lebt im Süden Frankreichs und berichtet - ebenfalls über E-Mail - von einer heißen Affäre. Ihr bester Freund Alfred versucht, mit gutgemeinten Ratschlägen aus diversen Lifestyle-Magazinen mehr Farbe in das Leben der Graziani zu bringen. Außerdem macht er sie mit Venezuela, einer Transsexuellen, bekannt. Diese empfiehlt einen Namenswechsel: "So eine Namensauffrischung, glaub mir, tut Wunder, wie ein neues Kleid, eine neue Lebens-Geschichte."
Doch Namen hat sie bereits genug: Agnes, Aurelia, Annamaria, Anna, Astrid und Alabaster-Allerliebste wird sie abwechselnd genannt. Die wechselnden Namen teilt sie mit Frank Wedekinds Lulu. Und: "Da gibt es doch diesen Mythos, wonach man über einen Dämon erst dann Macht bekommt, wenn man seinen richtigen Namen kennt", erinnert sich Venezuela. Dämonen scheint es im Leben der A. Graziani genug zu geben: Die Einsamkeit, der Tod, die seelische Abgestorbenheit, wofür die Porträts ausgestopfter Tiere eine wunderbare Metapher sind. Grazianis unbekannter Auftraggeber erkundigt sich auch nach ihren Alpträumen.
Er möchte an den Schreckensseiten ihres Lebens teil haben. "Ich sehe Sie vor mir", antwortet ihm die Malerin, "vom Leben abgeschnitten, von genügend Geld genügend gelangweilt, ein Vampir, der sich von den Intimitäten anderer nährt, weil ihm der Mut zu wirklichen Berührungen fehlt." In dieser Beziehung - zwischen Auftraggeber und Künstler - tut sich ein großer Interpretationsspielraum auf: Wie sieht eigentlich das Verhältnis zwischen Leser und Autor aus? Nochmals an Bachmann gedacht: Ist nicht der Schauder, der einen beim Lesen eines seelischen Todeskampfes befällt, auch nur die Sehnsucht des Blutsaugers, in fremde Alpträume einzudringen? Bettina Balàka webt in ihrem Roman aus Traumsequenzen, Briefwechseln und Gesprächen ein ebenso dichtes wie leichtes, elegantes Netz an Hinweisen. Langsam zieht es sich über den Leser, während sich die Protagonistin langsam daraus befreit.
Max - anfangs der Urquell ihres Leidens - spielt ab der Mitte des Buches keine Rolle mehr. Stattdessen wird die große Atemlosigkeit zum Thema. Dem Zugrundegehen aus Kurzatmigkeit gilt es zu entgehen. Das Bild, wie Graziani den Ausweg findet, ist schön: Für eine Inszenierung von Alban Bergs Lulu wird jemand gesucht, der den Todesschrei der Lulu am Schluß des Stückes ausstößt. Die Malerin ist bei der Probe anwesend, weil Alfred die Kostüme für die Inszenierung macht. "Ohne genau zu wissen, was ich tat, holte ich plötzlich tief Luft - und schrie!!!!! Ich vergaß mein Gesicht, meinen Kopf, meine Augen. Ich stieß mich ab wie eine Rakete, ich sah ein Licht, das sich in Kristallen, in Prismen, in strahlenfangenden Spiegeln bis zur äußersten Helligkeit auflud."
So erleichternd diese Befreiung für die Protagonistin ist, so unzufrieden auf der einen und glücklich auf der anderen Seite läßt sie den Leser zurück. Zu plötzlich tritt die Katharsis durch den fingierten Todesschrei ein. Alle Probleme, die während des Buches angerissen wurden, alle dunklen Wolken, die über dem brütenden Haupt der Malerin hingen, scheinen nicht (auf)gelöst, sondern einfach nur weggestoßen zu werden. Doch andererseits ist man froh, daß die Malerin ihren Atem wieder gefunden hat.
So kommt letztlich die Lakonie, die das ganze Buch unterschwellig durchzieht, zu ihrem Recht. Es ist genau so leicht, wie die Briten behaupten: "The trick is to keep breathing." Trotz der Irritation am Schluß stellt Bettina Balàka mit diesem Buch einmal mehr klar, daß sie nicht nur eine würdige Nachfolgerin von Ingeborg Bachmann wäre, sondern auch, daß sie eine der sprachbegabtesten und spannendsten jungen Autorinnen Österreichs ist.



Iris Strohner in Brigitte 17/2000:

In ihrem ersten Roman entwirft die bisher als Lyrikerin und Erzählerin bekannte Bettina Balàka ein Ensemble unterschiedlichster Frauenbilder. Im Zentrum steht dabei eine Malerin, die im Auftrag eines anonymen Gönners ausgestopfte und verstaubte Tiere des Naturhistorischen Museums porträtiert.
Aus zahllosen Briefen, Telefonaten und Gesprächen mit ihrer Freundin Isabelle, dem schwulen Alfred und der transsexuellen Venezuela entwickelt sich ein dichtes Gewebe aus verschiedenen weiblichen Identitätsentwürfen. Dabei spielt die Liebe natürlich eine entscheidende Rolle.
In erster Linie das Scheitern der Beziehungen zu den Männern, die bei Balàka nur mehr ironisch karikiert auftauchen. Ein unterhaltsamer und kritischer Beitrag für einen spielerischen Umgang mit festgefahrenen Geschlechterrollen, aber auch zum häufigen weiblichen Selbstbetrug.


Christiane Zintzen in der Neuen Zürcher Zeitung, 30. November 2000:

Sondersame Kosmen sind es, in welche uns die österreichische Autorin Bettina Balàka führt: Hatten die Erzählbände "Krankengeschichten" (1996) und "road movies" (1998) die Transitzonen krisenhafter Lebensmomente durchquert, so verheisst bereits der Titel ihres jüngsten Prosawerkes einen Stillstand der beklemmenden Art: "Der langangehaltene Atem" mag, wo selbstgewählt, die Taucherin zu den schönsten Perlen am Meeresgrunde führen; wo jedoch eine fremde Hand solche Atemnot erzwingt, übt sie lebensbedrohliche Gewalt wider den aeroben Leib. Die meisten der Gestalten, welche den Textweg dieses "Romans" säumen, sind freilich des Atmens und anderer Stoffwechsel auf ewig enthoben: Wir befinden uns in den staubschattierten Hallen des Wiener Naturhistorischen Museums.
Noch ehe wir dem lebendigen Ich der vor den Vitrinen kauernden Zeichnerin Graziani persönlich begegnen, führt unser Weg in die Werkstatt des Taxidermisten: Was aber vollzieht der Tierpräparator mit seinen "neuesten dermoplastischen Methoden" anderes als die Zeichnerin, welche mit Kohlestift die animalischen Museumsstücke porträtiert? Es arbeiten beide Hand-Werker nach der Natur, und beide vollziehen dies im klassischen doppelten Wortsinn: Als mimetische Unterfangen bleibt dem "Ausstopfen" wie auch dem "Abzeichnen" die Melancholie über die eigene Nachgängigkeit hinsichtlich des lebendigen Jetzt eingeschrieben.
Balàka spielt kundig mit dem motivischen Fundus, welchen der museale Ort zwischen Natur und Kunst, zwischen Leben und Tod, zwischen Präsenz und Abwesenheit anzubieten hat. Abwesend bleibt die tangible Physis der in den Vitrinen ausgestellten Tiere. Abwesend bleibt auch der - anonym bleibende - Auftraggeber, mit welchem sich indes ein reger elektronischer Briefverkehr entspinnt. Das gute alte "Geheimnis" tritt auf den Plan und lockt verheissungsvoll mit der Möglichkeit einer kriminologischen Intrige. Die Autorin indes versagt ihrem Text (sowie der Leserin, dem Leser) eine so süffige Dramaturgie und nützt den Topos musealer Natures mortes für komplizierte philosophische Wandelgänge durch das Warenlager der Theorien zu Kommunikation, Geschlecht und Charakter.
Wirft jedes Vitrinenschild - jenes etwa für den "Mähnenwolf" (Chrysocyon brachyurus) - die Thematik der Beziehung von Bezeichnung und Bezeichnetem auf, so dürfen wir weiter fragen, wer - nach Linné - mit welchem Recht hier was, wie und warum klassifiziert: Im Roman ist es die transsexuelle Freund(in), welche die gängigen Taxonomien von Männlich und Weiblich aufs Schillerndste durchkreuzt, doch bleibt dieser kokette Paradiesvogel - wie die anderen Protagonisten - eigentümlich blass. Offenbar zielt die Erzählerin nicht auf psychologisch plastisches Personal, sondern behandelt ihre Figuren als schiere "Textfunktionen": grammatische Homunkuli, des Lebensbrodems bar. Auf die Metaphorik des Museums rückübertragen, offenbart sich Balàkas Erzähltechnik als musée imaginaire: Das Genre "Roman" bildet als umfängliche Kubatur gewissermassen das Museumsgebäude, welches die Erzählerin mit narrativen Exponaten möbliert. Wie Vitrinen - ferne und doch nah - placiert sie die vielen Briefe, die E-Mails, die Träume und Erinnerungen ihrer Protagonisten und überlässt es dem lesenden Fußvolk, an diesen Textschaukästen entlang zu wandeln: Zweifellos ein glänzender Schachzug der Autorin, ihr auktoriales Diktat just in seiner vorgeblichen formalen Aufhebung auszuüben.
Ein Theaterdonner indes durchbricht den Spuk der statisch verharrenden Körperwelten. In einem finalen Opfer-Schrei kommt nicht nur die dem Text hintergründig eingewebte "Lulu"-Thematik zu sich, sondern auch die bislang stumme Porträtistin zur Stimme - und schöpft endlich den lange verhaltenen Atem, welchen der Titel versprach. In Präludium und Coda taucht diese "Lulu" als symbolisches Alter Ego der Zeichnerin auf; peu à peu verschiebt sich der Fokus von der zeichnerischen Gestaltung des toten Getiers hin auf die Gestalt der Zeichnerin: auf das Weib-Tier nämlich und das Objekt männlicher Begierden. So landen wir wieder im Atelier des Taxidermisten, nur dass dieser jetzt den Mantel eines kosmetischen Chirurgen trägt. Wo sich dessen Handwerk - zwischen Brustimplantat und "Vaginal-Rejuvenation" - zur Zurichtung weiblicher Idealkörper im Roman suggestiv mit dem Motivkomplex des Naturhistorischen Museums verflicht, bleibt die - separat unter dem Titel "Messer" publizierte - essayistische Polemik notwenig flach: Einmal mehr erweist sich die souveräne Überlegenheit einer literarisch verfügten Textur gegenüber der notwendigen Einsinnigkeit auch noch der temperamentvollsten diskursiven Argumentation.


hinauf