Eisflüstern
Ditta Rudle in der Buchkultur
107 B, Österreich
Spezial, Herbst 2006:
Schreiben mit forensischer Distanz
Bettina Balàka über ihren neuen Roman,
die unendlichen Folgen des Krieges und das Loch in
der Zeitgeschichte.
Am Tatort liegt nicht eigentlich
eine Leiche. „Beinahe ein Kunstwerk“,
denkt die Polizeiärztin als sie das sauber
aufgelegte Skelett im Raum für die Koloniakübeln
(„Coloniarium“) betrachtet. Irritierend
ist nur, dass dem seit mindestens 30 Jahren Toten
ein Oberschenkelknochen fehlt. „Ein Bubenstreich“
vermuten die Polizisten und ahnen nicht, dass das
kunstvolle Arrangement nur die Ouvertüre für
eine Serie von bestialischen Morden, geschickt inszeniert
und mit rätselhaften Hinweisen versehen, ist.
Doch nicht geringste Spur eines Täters. Der
muss in einem dramatischen Showdown die Aufklärung
selbst liefern.
„ Eisflüstern“, der jüngste
Roman von Bettina Balàka. liest sich zwar
so spannend wie einer der bluttriefenden Schmöker
Henning Mankells, doch ist der Krimilook nur Tarnung
für eine andere aufwühlende Geschichte,
der vom Krieg und seinen schrecklichen Folgen. Die
Autorin hat es sich nicht leicht gemacht und sich
auf die üppigen Gedenk- und Gedankenarchive
des 2. Weltkriegs verlassen, sondern sich noch weiter
zurückversetzt in der Chronologie des Grauens,
in die Zeit nach dem ersten großen Krieg im
vergangenen Jahrhundert. Die Hauptperson, der aus
russischer Gefangenschaft zurückgekehrte Polizist
Balthasar Beck, ist noch im 19. Jahrhundert geboren
– keine Person, die nach einem noch lebenden
Vorbild gebildet sein kann. Und dennoch lebt dieser
Beck, der tagelang durch Wien irrt, weil er sich
nicht nach Hause traut, sich fürchtet, dass
ein anderer die Tür öffnet und Marianne,
seine Frau, ihn nicht mehr brauchen kann. Die Autorin
ist mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkriegs geboren, kann also weder an diesen, noch
an den vorangegangenen Erinnerungen gespeichert
haben.
Wieso interessiert sich eine Frau des 21. Jahrhunderts
für eine so lang zurückliegende Zeit?
Sie wollte immer schon historische Romane schreiben,
sagt Bettina Balàka und erinnert sich an
die Faszination, die sie bei der Lektüre von
Marion Zimmer Bradleys Keltenroman „Die Nebel
von Avalon“ verspürt hat. „Ich
habe gesehen, wie viel die Autorin recherchiert
hat, das hat mich begeistert, aber ich wollte keine
Fantasystory schreiben. Ich wollte eine Epoche erforschen,
von der viel zu wenig bekannt ist. Man hat das Gefühl,
man kennt sich aus in der Geschichte, doch was war
vor dem 3. Reich? Zwischen dem Ende der Monarchie
und dem Anschluss ist ein großes Loch. Dieser
Bruch nach dem Zerfall, der war doch gewaltig.“
Außerdem spürt auch sie selbst noch die
Folgen des Krieges: „Mein Urgroßvater
war im 1. Weltkrieg Soldat, mein Großvater
im 2. und meine Eltern sind im Krieg geboren. Ich
kenne Leute, die noch immer kein Brot wegwerfen
können, der Krieg wirkt ewig fort. Genau betrachtet
war das vergangene Jahrhundert eine einzige Abfolge
von Katastrophen.“
Ganze fünf Jahre hat Balàka an dem mehr
als 300 Seiten starken Opus gearbeitet; zwei vergingen
mit der Recherche, drei mit dem Schreiben (direkt
in den Computer, der Effizienz wegen). „Anfangs
war es schwierig, über diese Zeit gibt es wenig
Aufzeichnungen, aber durch die Jahrestage, etwa
90 Jahre Attentat von Sarajewo, ist dann doch einiges
publiziert worden. Ich glaube, ich habe mit diesem
Roman etwas aufgegriffen, was in der Luft lag.“
Balàkas Genauigkeit führte sie auch
an jeden der zahlreichen und mitunter reichlich
abstrusen Schauplätze: In eine alte Eisfabrik,
zu den Resten der Schiffsmühle in Wildungsmauer,
auf den Friedhof der Namenlosen und in die Pathologie
so wie so: „Da hat sich der Pathologe entschuldigt,
dass grad keine Leiche da war. Ich aber war froh.“
Beim Schreiben lassen sie die grausam zugerichteten
Leichen nicht erbleichen, lässt sie sich vom
Elend im sibirischen Gefangenenlager nicht erschüttern:
„Ich halte da wie ein Arzt forensische Distanz.
Bei den Recherchen habe ich gelitten, aber beim
Schreiben kann ich draußen bleiben.“
Aber weshalb ein so typisches Männerthema,
Kriegskameraden und Kameradenschweine?
„ Ich wollte weg von diesen Frauenthemen,
ich hatte so ein Image bekommen als feministische
Autorin, das gefiel mir gar nicht. Doch was mich
an dem Thema wirklich interessiert sind die Unterdrückten,
die Irregeführten. ‚Allgemeine Wehrpflicht’
etwa, das ist doch ein Skandal. Meine drei Brüder
haben mir wirklich leidgetan, daher bin ich auch
gegen ein verpflichtendes Sozialjahr für Frauen.
Das ist Zwangsarbeit. Und so ein männliches
Thema ist der Krieg auch nicht, schließlich
leiden die Frauen genauso und ihr Leben verändert
sich. Manchmal allerdings sogar mit positivem Vorzeichen,
ohne Männer sind die Frauen selbstständiger
und selbstbewusster geworden. Marianne, Becks Frau,
hat sehr wohl gewusst ihre Freiheit zu genießen,
auch wenn sie auf die Rückkehr ihres Mannes
gehofft hat und keinen anderen heiraten wollte.
Traumatisiert sind sie alle, Männer wie Frauen.
Das interessiert mich, wie leben Menschen, die Fürchterliches
durchgemacht haben, weiter?“
Die begeisterten Urteile von Kritikerinnen und Kritikern,
die ihr „Sprachbewusstsein und Poesie“,
„exakte Formulierung und überzeugende
Bilder“ sowie einen „sezierenden Blick“
bescheinigen, werden auch durch diesen neuen Roman
bestätigt. Wobei die Kunst der Bettina Balàka
auch im Erzählen auf mehreren Ebenen besteht.
„Eisflüstern“ kann als Kriminal-
ebenso wie als historischer Roman gelesen werden,
als Psychogramm eines vom Krieg korrumpierten Heimkehrers,
wie auch als Sittenbild aus dem Nachkriegswien von
1922 und als Brechtsche Warnung: „Lasst euch
nicht verführen!“ Von ihren Figuren lässt
sich Balàka jedenfalls nicht verführen
und vereinnahmen. Beschreibt und analysiert, ohne
sich in die Geschichten hineinziehen zu lassen.
Vielleicht wäre sie gern Chirurgien geworden?
„ Ich wusste schon in der Volksschule, dass
ich einmal das Schreiben zum Beruf machen würde.
Ganz früh habe ich Gedichte geschrieben, meine
Mutter war sehr genau und hat sie mir ausgebessert,
mir Rhythmus und Metrik beigebracht. Sie war ganz
erstaunt, als ihr die Lehrerin als Besonderheit
mitgeteilt hat, dass die Tochter Gedichte schreibt
– für meine Mutter war das nichts Besonderes.“
Nach Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften
und einigen Preisen, ist 1994 das erste Buch, die
Gedichtsammlung „Die dunkelste Frucht“,
als Band 60 in der Reihe „Lyrik aus Österreich“
erschienen. Seit dem darf Bettina Balàka
stetig über die von der Kritik ausgebreiteten
preisverzierten Teppiche schreiten. Nur die Jury
des Ingeborg-Bachmann-Preises war geteilter Meinung.
„Ich war vorbereitet, man weiß ja, dass
diese Lesungen etwas Unseriöses haben. Es gab
auch Verteidiger meines Textes. Aber Plus und Minus
ergibt eben Null.“ Die Erinnerung an den Auftritt
in Klagenfurt vor zwei Jahren sei nicht wirklich
schmerzhaft. Die große Auflage, der sämtliche
Hitparaden stürmende Seller, war ihr noch nicht
beschert. Deshalb muss das Haushaltsbudget weiterhin
durch Übersetzungen („Keine literarischen,
da entspricht das Honorar keineswegs dem Aufwand“)
und Buchrezensionen aufgebessert werden. Schließlich
gilt es eine Tochter, in diesem Herbst als Taferlklasslerin
unterwegs, zu ernähren. Geht das überhaupt
zu Hause zu arbeiten mit einem Kind?
„ Ich war von Anfang an Alleinerzieherin und
hab zwischen Schmutzwäsche und Spielzeug gearbeitet.
Seit sie in die Schule geht, ist es leichter. Ich
habe gelernt, beim Schreiben die Türen innerlich
zuzumachen. Während Pia in der Schule ist,
wird nicht geputzt oder gebügelt. Schlimm es
ist nur, wenn das Kind krank ist. Zum Glück
ist das selten. Oder Bekannte und Verwandte meinen,
ich sei ohnehin zu Hause, da könnten sie doch
auf einen Tratsch vorbei kommen. Da bin ich hart.
“
Als berufstätige Mutter will und kann sich
Bettina Balàka auch nach der Monsterarbeit
keine schöpferischen Pausen leisten. Wenn sie
nicht an einem ihrer Werke arbeitet, dann an dem
anderer, als Rezensentin.
Ist das nicht schwierig quasi Konkurrenten und Konkurrentin
zu bewerten.
Auch da kann Bettina Balàka das Objektiv
vor Augen halten. „Bücher von KollegInnen,
die in Jurys sitzen, rezensiere ich nicht. Das kann
nur falsch ausgelegt werden. Aber sonst lasse ich
mich nicht von persönlichen Sympathien leiten
und versuche ganz ehrlich zu sein.“
Entwaffnend ehrlich antwortet sie auch, auf die
Frage nach der Herkunft des so schön reimenden
Namens. „Den hab ich mir ausgedacht. Dann
hab ich noch den Akzent draufgesetzt.“ Inzwischen
ist die Alliteration keineswegs nur vorgeschobener
Nom de Plume, sondern längst, nach aufwendiger
und kostspieliger Änderung sämtlicher
Dokumente, unverwechselbare Identität. In der
ihr eigenen Konsequenz lässt sie auch die Tochter
den Kunstnamen tragen. „Da habe ich eine neue
Dynastie gegründet! Mein Vater war gar nicht
glücklich.“ Ironische Funken blitzen
nicht nur durch die traurige Geschichte vom Heimkehrer
Balthasar.
Georg Walz in literaturkritik.de
Nr. 11, November 2006:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10129&ausgabe=200611>%20&ausgabe=200611
Nikolaus Scholz in:
http://oe1.orf.at/highlights/66135.html
Werner Jung in Freitag
Nr. 40, 6. Oktober 2006:
http://www.freitag.de/2006/40/06401602.php#top
Werner Schandor im Falter
Nr. 40/ 2006:
http://www.falter.at/rezensionen/detail.php?id=3397
Erwin Riess in der Presse
(Spectrum), 30.9.2006:
Das Skelett im Hinterhof
Bettina Balàka
legt mit "Eisflüstern" ein erstaunliches
Buch vor: ein Epos über das verarmte Wien der
frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen Kriminalfall,
dessen Auflösung bis zum Schluss für Spannung
sorgt.
Wien, im Herbst 1922.
Nach sie ben Jahren Abwesenheit kehrt der einstige
Oberleutnant der k.u.k. Armee Balthasar Beck aus
Russland zurück. Auf der Höhe von Mannswörth
verlässt er ein Schleppschiff und schlägt
sich nach Wien durch. Zerlumpt, erschöpft und
nur 42 Kilogramm schwer meldet er sich bei der Heimkehrerstelle
am Nordbahnhof.
Als Beck seine Frau Marianne 1915 verließ,
wusste er zwar, dass sie schwanger war, darüber
hinaus hatte er aber durch sieben Jahre hindurch
keinerlei Informationen über seine Familie.
Denn er war früh in russische Kriegsgefangenschaft
geraten und sukzessive Richtung Osten verbracht
worden: Von Westsibirien bis Wladiwostok und an
die Grenze zur Mandschurei wurde er von einem Lager
ins nächste verschleppt. Später kämpfte
er für die Bolschewiken gegen die von General
Koltschak geführte Gegenrevolution - traf dort
auf frühere Kameraden - und hatte eine längere
Affäre mit einer Bäuerin am Baikalsee.
Währenddessen brachte Marianne in Wien ein
Mädchen, Aimée, zur Welt und führte
ihren Krieg gegen Hunger, Kälte und Hyperinflation
in der zu einer Metropole des Elends herabgekommenen
ehemaligen Reichshauptstadt. Sie nahm eine Büroarbeit
an und schöpfte daraus ein starkes Selbstbewusstsein.
Die neuen republikanischen Verhältnisse sahen
die frühere Offiziersgattin rauchend und mit
Bubikopf ihr Leben meistern; abends las Marianne
für die "Rote Fahne", die Zeitung
der jungen KPÖ, Korrektur. Die Wandlung von
der behüteten Offiziersgattin zur politisch
und beruflich aktiven Republikanerin konnte größer
nicht sein.
Der Heimkehrer braucht lange, bis er die Kraft findet,
seine Familie aufzusuchen. Mit einer Mischung aus
Schock und Erleichterung nimmt Marianne den verschollen
Geglaubten auf. Noch ist der Mann, der von den Erlebnissen
in den Lagern, von Krieg und Bürgerkrieg schwer
traumatisiert ist, nicht wirklich zu Hause angekommen.
Schon in der ersten Nacht verlässt er die Schlafstatt
neben seiner Frau und legt sich im Vorzimmer zum
alten Hund auf den Boden. Als das Mädchen sich
morgens über ihn beugt, antwortet er mit einem
Reflex der Faust, der Aimée um ein Haar schwer
verletzt. Das Töchterchen ist von der Wildheit
und Fremdheit der Jammergestalt abgestoßen,
lange Zeit gelingt es Beck nicht, eine Beziehung
zu seinem Kind aufzubauen, was damit zu tun hat,
dass Beck einen despotischen Vater hatte, der sein
Kind mit Prügeln, Strafen und Vorwürfen
überschüttete und der im ersten Jahr der
Lagerexistenz dem Gefangenen Beck ausrichten ließ,
er geniere sich dafür, einen Sohn zu haben,
der die Frechheit und Feigheit besäße,
sich vom Feind überrumpeln zu lassen.
Tagsüber treibt Beck sich im winterlichen Wien
umher, auf der Suche nach Nahrung und in der Nähe
seiner alten Arbeitsstätte am Kriminalkommissariat.
Sein früherer Kollege Moldawa vermag ihm zwar
keine Beamtenposition in Aussicht zu stellen, die
Mitarbeit an einem ungewöhnlichen Kriminalfall
verbessert Becks Chancen aber so nachhaltig, dass
sein Wiedereintritt in die alte Berufslaufbahn als
Polizeioffizier möglich wird. Lange Zeit hat
es den Anschein, als würde Beck nicht nur selbst
in diesen Kriminalfall verstrickt sein, einige Tage
lang steht er sogar selbst unter Tatverdacht. Ein
Skelett war in jenem Haus aufgetaucht, in dem Beck
wohnte, kurz darauf wurde auf dem Treibrad einer
Schiffsmühle eine Leiche gefunden, zerfetzt
von einer russischen Nagaika-Peitsche und um neun
Finger amputiert. Schließlich taucht noch
die Leiche eines weiteren Kriegsheimkehrers und
ehemaligen kaiserlichen Offiziers in einem Eisblock
auf. Beck gelingt es, den Zusammenhang zwischen
den Morden so weit zu rekonstruieren, dass klar
wird: Sie gehörten einem Offizierskomitee eines
Lagers in Sibirien an. Das Komitee bestand aber
noch aus einem vierten Offizier: Balthasar Beck.
Der Heimkehrer kann sich also ausrechnen, wann er
an die Reihe kommen wird, hat aber keine Ahnung,
weshalb und durch wen er gemeuchelt werden soll.
Die Lösung des Falles soll hier nicht verraten
werden, angemerkt sei nur, dass ein aufgeweckter
Wiener Mittelschüler namens Lintschinger darin
eine zentrale Rolle spielt. Das Komitee war nämlich
dazu verpflichtet, Fluchtpläne dem Kommandanten
zu melden, andernfalls zehn Prozent der Lager-insassen
getötet würden. Als eines Tages eine Gruppe
von Gefangenen einen Fluchtplan ausheckte, wurde
das Vorhaben verraten. Das Komitee meldete dies
der Obrigkeit. Daraufhin wurden die zehn Fluchtbereiten
vor versammelter Lagerbelegschaft gepeitscht und
im Schnee liegen gelassen. Bettina Balàka
legt mit diesem umfangreichen Roman ein erstaunliches
Werk vor. Ein Epos über das devastierte Wien
der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen
Kriminalfall, dessen Auflösung bis zum letzten
Moment für Spannung sorgt - wenn auch der Showdown
ein wenig konstruiert wirkt. An dem penibel gearbeiteten
Text faszinieren besonders die souveräne Sprachbe-herrschung
in der Sphäre des Krieges und dessen Widerspiegelung
in den Verwerfungen von Becks Psyche. Die Anordnung
in kurzen Kapiteln, das Arbeiten mit Rückblenden
und psychischen Übertragungen sind durchwegs
gelungen.
Verstörend wirkt indes die von den Personen
ausgehende Kälte. Beschrieben wird ein liebendes
Paar, eine Familie, die trotz aller Anfechtungen
durch den Krieg gekommen ist und deren Mitglieder
einander wieder gefunden hat. Kaum aber wird man
der Emotionen teilhaftig, die diese Menschen ja
unbeschadet aller durchlittenen Krisen haben müssen.
Streckenweise bewegen sich Beck und seine Frau wie
ferngesteuert durch eine romanhafte Versuchsanordnung,
in der das Entsetzliche des Kriegs und des Lagerlebens,
das Ertragen von Hunger, Kälte und Einsamkeit,
zur Prostitution gezwungenen Kindern, von Rattenplage
und tyrannischen Kommandanten ausgemalt werden.
Die Autorin ruft diesen Eindruck der Kälte
bewusst hervor - nicht umsonst trägt das Buch
ja den Titel "Eisflüstern" -, wohl
um deutlich zu machen, dass Verhältnisse Menschen
niederdrücken und das Menschliche in den Personen
ersticken. Dieserart entfaltet Balàka ein
kunstvolles, oft dichtes, aber auch seltsam distanziertes
Gemälde vom Krieg und den von ihm zerstörten
Seelenlandschaften. So ist der beeindruckende Roman
auch als Studie über die vom Krieg traumatisierte
Psyche eines überlebenden Paares zu lesen
Alexander Kluy im Rheinischen
Merkur Nr. 40, 5.10.2006:
KOMMISSARE AUF ABWEGEN
Wien, 1922. Balthasar Beck, einst Kriminalinspektor,
kehrt nach Krieg und sieben Jahren in russischer
Kriegsgefangenschaft in seine Heimatstadt zurück.
Nach grauenhaften Grenzerfahrungen ist er ein anderer,
von der Donaumonarchie sind nur noch Schemen vorhanden,
durchsetzt von Not, Elend, Hunger und neuen politischen
Ressentiments. Frau und Kind sind ihm halbfremd
geworden. Und dann wird er noch bedrängt von
einer rätselhaften Mordserie. Die 40-jährige,
in Wien lebende Autorin findet eindrucksvolle Bilder
in einer kraftvollen und abwechslungsreichen Sprache.
Ö1 Magazin, September 2006:
Mit diesem Roman führt eine der talentiertesten
jungen österreichischen Autorinnen ihre Leser
zurück ins Wien der frühen 1920er Jahre.
Die Monarchie ist längst abgeschafft, lebt
aber in den Köpfen noch weiter, ein sich langsam
radikalisierender Antisemitismus wird spürbar.
In dieses historisch genau recherchierte Gesellschaftspanorama
stellt Bettina Balàka den Kriegsheimkehrer
Balthasar Beck. Mühsam versucht er sich in
seinem früheren Leben und an seinem alten Arbeitsplatz,
bei der Kriminalpolizei, wieder zurechtzufinden.
Grauenvolle Erinnerungen an die Gräuel des
Krieges vermischen sich mit aktuellen, rätselhaften
Mordfällen...
Buch der Woche 25.9.-1.10.
Katharina Narbutovic in WDR3:
"Gutenbergs Welt", 22. Oktober 2006:
Wien. 1922. Eine ganz gewöhnliche Bäckerei.
Doch als Balthasar Beck, der gerade erst aus dem
Krieg heimgekehrt ist, den Laden betritt, da scheint
ihm, er sei in einer orientalischen Pfefferkammer
gelandet: so betörend duften die frischgebackenen
Milchbrote, Rundsemmeln, Apfel- und Marillenkuchen
mit dem karamelisierten Staubzucker obenauf, dass
ihm ganz schwindelig wird. Ein Sog geht aus von
den Wohlgerüchen wie von einer weichen Schneewehe
in sibirischer Eiseskälte, auf die man sich
betten möchte, um ein wenig auszuruhen –
und auf immer einzuschlafen. Gäbe Balthasar
Beck dem Sirenengesang der süßen Kuchenstücke
nach, er würde in einen Fressrausch verfallen,
wahllos alles in sich hineinschlingen, um es kurz
darauf wieder zu erbrechen, im Erbrochenen nach
Fruchtstückchen suchen, um diese sich erneut
in den Mund zu schieben, und in einer Endlosschleife
landen aus Fressrausch und Erbrechen und Wahn. Nicht
leicht ist es, nach einem Leben in der Finsternis
in den normalen Alltag zurückzufinden. Nach
acht Jahren Krieg und Gefangenschaft verträgt
ein auf ein Nichts zusammengeschrumpfter Magen nur
mehr kleinste Brocken trockenen Brots.
34 Jahre ist Balthasar Beck alt, als er im September
1922 aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt.
Da ist der Krieg schon seit vier Jahren vorbei.
Das Leben pulsiert, die Kaffeehäuser sind voller
Menschen, und alle scheinen sich an die neue Zeit,
die Republik und ein Österreich ohne Kaiser
gewöhnt zu haben. In dieser Umgebung wirkt
der abgemagerte Beck mit seiner zerschlissenen k.u.k.-Uniform
wie eine Schießbudenfigur, wie ein Wiedergänger,
wie "geschichtsloser Knochenmüll".
Und auch für Beck ist es, als sei er auf einem
anderen Stern gelandet. Er hatte Wien im Hochsommer
1914 verlassen, als Offiziere in der Gesellschaft
noch etwas galten und alle glaubten, Krieg sei so
etwas wie ein Tennismatch, "nach dem man einander
die Hand schüttelte und Erfrischungen gereicht
werden". Und wie ganz Österreich hatte
auch er in seiner Vorstellung keinen Plan vorrätig
gehabt "für etwas, das außerhalb"
der "Kaiserwelt lag, an der" sich alle
"festgehalten" hatten. Ein einsamer Fremder
in einer zerborstenen Welt, stromert Balthasar Beck
über Tage durch Wien, nächtigt im Türkenschanzpark
und zögert, nach Hause zurückzukehren
– wer weiß, ob seine Frau Marianne nach
Jahren ohne jedes Lebenszeichen sich nicht schon
längst einen anderen gesucht hat.
Doch auch dann, bereits zurückgekehrt zu Frau
und sechsjähriger Tochter, wird Balthasar Beck
die Einsamkeit nicht los: die Einsamkeit der Erinnerung
an die Hölle von Krieg und Jahren der Gefangenschaft
in einem Lager unweit der Grenze zur Mandschurei,
eine Hölle, in der Menschen einander nicht
nur getötet, sondern auch in sadistischem Blutrausch
einander gequält und in der Seele zerstört
haben – wie den zwölfjährigen Jungen,
der wegen eines winzigen gestohlenen Messers von
kultivierten, gebildeten Männern eine endlose
Nacht lang sodomiert wurde und der sich darauf einen
rostigen Nagel in die Halsschlagader trieb. Und
die Einsamkeit der inneren Eiswelt, in die Balthasar
Beck sich eingekapselt hat, um die vielen Höllenkreise
als Mensch zu überleben und sich selbst nicht
über all dem Wahn und Grauen abhanden zu kommen.
Wie Bettina Balàka es als Nachgeborener gelingt,
die Erfahrungs- und Erkenntnisessenz der eisigen
Jahre des Ersten Weltkriegs zu erfassen und in ein
"Eisflüstern" zu gießen, das
ihren Roman als Grundton durchzieht, das ist beeindruckend.
ORF Teletext S. 633:
Wien 1922. Balthasar Beck kehrt entkräftet,
aber unverletzt ins heimatliche Wien zurück.
Er wird immer wieder
von grauenvollen Erinnerungen an die Gefangenschaft
und die Gräuel des Krieges heimgesucht und
hat Mühe, in sein altes Leben zurückzufinden.
An seinem Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei wird
er mit Mordfällen kon-
frontiert, die mit den Kriegsgeschehnisssen in Sibirien
zusammenhängen.
Bettina Balàka hat durch fundierte Detailrecherchen
einen spannungsgeladenen Roman über die Jahre
nach dem ersten Weltkrieg geschrieben.
Caro Wiesauer im Kurier,
30.9.2006:
„Eisflüstern“,
das heißt Ausatmen bei minus 45 Grad: Eine
knisternde Wolke bildet sich dabei.
Beck hat auch sein Inneres auf Eis gelegt. Das Foto
seiner Frau begräbt er unter Leichen. Nur nicht
an der Sehnsucht hängen, und verenden wie so
viele in der russischen Gefangenschaft.
Ausgerechnet bei Kilometer 1918 wird Beck mit ein
paar Kollegen – einer von ihnen tot –
vor Wien in einem Ruderboot abgesetzt. Der 1. Weltkrieg
ist längst zu Ende. Beck braucht Ewigkeiten,
um in sein früheres Leben, seinen Beruf als
Polizist und in die antisemitisch werdende Gesellschaft
zurückzukehren. Das Grauen, das er erlebt hat,
tropft ihm aus jeder Pore. Perverse Späße,
die sich der Tod für Soldaten ausdachte wie
Varieté-Witze, rauben Beck den Schlaf. Die
Gräuel holen ihn ein. Mehr als beachtlich ist
die Hingabe und Genauigkeit, mit der Bettina Balàka
das Wien der 20er-Jahre porträtiert. Wie intensiv
sie aber in persönliche Schicksale geschlüpft
sein muss, um dieses Buch so eindringlich schreiben
zu können, ist schlichtweg sagenhaft.
Markus Bundi in der Wiener
Zeitung, 19.8.2006:
http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4103&Alias=wzo&cob=244400
Barbara Belic im ORF Steiermark,
20.8.2006:
http://steiermark.orf.at/magazin/immergutdrauf/kultur/stories/130280/
Karin Fleischanderl für
die o-töne, Museumsquartier Wien 2006:
Müsste ich einen der Fragebogen beantworten,
die regelmäßig in den Sonntagsbeilagen
der Tageszeitungen erscheinen, so würde ich
auf die Frage, was bedeutet Glück für
Sie, antworten: Ein Buch zu finden, das mich derart
fesselt, dass ich es gar nicht erwarten kann, zu
ihm zurückzukehren, einzutauchen in das Leben
der beschriebenen Personen, teilzuhaben an ihrem
Glück, an ihren Sorgen und Nöten, das
Gefühl zu haben, an etwas teilzuhaben, das
reicher und interessanter ist als mein eigenes alltägliches
Leben.
Das hat natürlich etwas Eskapistisches, nicht
umsonst ist das Lesen von Romanen lange Zeit verpönt
gewesen als ein gefährlicher Genuss, der die
Lesenden in Phantasiewelten entführe und unbrauchbar
mache für die Anforderungen der alltäglichen
Realität. Ritterromane sind es ja auch, die
Emma Bovary in ihrer Lust am Lesen verschlingt,
einer Lust, die zu einer krankhaften und krankmachenden
Sucht wird und letzten Endes ihren Untergang besiegelt.
Freud hat das realitätsvergessene Aufgehen
des Lesers in der Welt der Fiktion als milde Narkose
beschrieben, und Tucholsky findet für das Glück
beim Lesen folgende Worte: „Manchmal, o glücklicher
Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, dass
du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr
da. Dein Körper verrichtet gleichmäßig
seine innere Fabriksarbeit- du fühlst ihn nicht.
Nichts weißt du von der Welt um dich herum,
du hörst nichts, du siehst nichts, du liest.“
Doch andererseits, kann ich
mich überhaupt
noch trauen, mich zum Lesen von Romanen zu bekennen,
nach dem Kahlschlag der Moderne und nachdem Adorno
mir erklärt hat, dass mein Leseverhalten regrediert
sei und ich als Romanleser hartnäckig immer
wieder nach derselben Speise verlange, die man
mir einmal vorgesetzt hat? Und welche Romane soll
ich überhaupt noch lesen, nachdem die Postmoderne
einen vorerst letzten Versuch unternommen hat,
das Genre zu retten, indem sie erklärt hat,
ein zeitgenössischer Roman habe ironisch mit
den Augen zu blinzeln und Bildung für die
Eliten und Lesegenuss für die breiten Massen
als Teile eines längst zerbrochenen Ganzen
zur Verfügung zu stellen und uns auf diese
Weise eine Flut von kitschigen, klischeehaften
Machwerken beschert hat, die das Zitat zur wahren
Authentizität erklären?
Mit einem Wort, welche Romane sind trivial und
welche sind es nicht?
Bettina Balaka erzählt in ihrem Roman „Eisflüstern“ die
Geschichte eines Kriegsheimkehrers, der sich im
September 1922 nach Jahren der Gefangenschaft in
seiner Heimatstadt Wien zurechtzufinden versucht.
Sie erzählt, wie er sich seiner Frau, die
er seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hat, und
seiner Tochter, für die er ein völliger
Fremder ist, annähert, und wie er in seinem
ehemaligen Beruf als Polizist wieder Fuß zu
fassen versucht. Die Geschichte ist eingebettet
in einen Kriminalfall, der – mehr soll jedoch,
wie es so schön heißt, nicht verraten
werden – im direkten Zusammenhang mit seiner
Vergangenheit im Gefangenenlager steht. Einen Großteil
der Erzählung machen Erinnerungen aus, Erinnerungen,
die das Unfassbare, was im Krieg und im Gefangenenlager
geschehen ist, fassbar machen sollen, sowie Erinnerungen
des Protagonisten an seine Kindheit als Sohn eines
kaltherzigen und sadistischen Richters.
Das klingt nach einer spannenden
und unterhaltsamen Geschichte, doch andererseits,
wie viele Geschichten
habe ich nicht schon zu lesen begonnen, die ebenfalls
spannend und unterhaltsam zu sein versprachen, über
Geishas und jüdische Großfamilien und
römische Vorstadthuren, und doch wieder schnell
aus der Hand gelegt, weil mir ihr Schicksal überhaupt
nicht nahe ging, oder doch atemlos durchgelesen,
mit einem schalen Gefühl hinterher wie nach
exzessivem Mehlspeisengenuss: übervoll und
gleichzeitig hungrig.
Bettina Balaka hingegen erzählt ihre Geschichte
so, dass mir die Erfahrungen ihres Protagonisten
greifbar nah rücken, sie hat - was mir als
nicht geringe Kunst erscheint - eine Person aus
Fleisch und Blut geschaffen, eine Person, von der
man glaubt, es könnte sie wirklich gegeben
haben. Und sie hat einen Ton gefunden, der – ohne
gewollt altertümlich zu sein – in Anklängen
ein wenig von einer versunkenen Welt auferstehen
lässt, einer Welt, in der es so etwas wie
Redouten, Dienstmädel und Sommerfrischen in
Abbazia gegeben hat – lauter Dinge, die sich
nun, in einer radikal veränderten Realität
wie Fremdkörper ausmachen. Ein schmerzhafter
Kontrast, der sich in Bettina Balakas Roman jedoch
als äußerst produktiv erweist: Als würde
eine liebliche Melodie über eine Erzählung
gelegt, in der nur von den grauenhaftesten Dingen
die Rede ist, als würde der Alptraum sich
zu Walzerklängen ereignen.
Ich habe keine Ahnung, wie diese Welt wirklich
beschaffen war, aber Bettina Balaka entwirft sie
auf eine Weise, die mir plausibel erscheint, und
klugerweise ohne sich ihr völlig anzuverwandeln,
sondern so, dass die Distanz dessen, der sie ja
ebenfalls nur aus Berichten und aus der Literatur
kennen kann, stets gewahrt bleibt.
Sie entwirft eine Welt, die mich fasziniert, die
mich fesselt, in die ich immer wieder gern zurückkehren
möchte, um noch ein wenig teilzuhaben an dieser
Atmosphäre, und noch ein wenig zu erfahren über
den Alltag dieser Menschen, die in die Normalität
zurückzukehren scheinen, obwohl ihnen – was
wiederum nicht sie, sondern nur die Autorin und
ihre Leser wissen können – in Bälde
eine noch größere Katastrophe bevorsteht,
die sich in Form nationalistischer und antisemitischer
Töne bereits ankündigt.
Und so habe ich am Endes dieses
Romans, der ja auch irgendwo ein Krimi sein möchte, nicht
das zufriedene Gefühl, des Rätsels Lösung
in Erfahrung gebracht zu haben, sondern vielmehr
den Wunsch, hier möge eine neue Geschichte
beginnen.
tvmedia Nr. 33, 12. – 18. August 2006:
Nach
dem WK I: Der ehemalige Kriegsgefangene Beck hat
genug damit zu tun,
seine (psychischen) Wunden
zu lecken, als er mit einer grauenvollen Mordserie
konfrontiert wird. Stehen die Todesfälle im
Zusammenhang mit seinen schrecklichen Erlebnissen
in Sibirien? Spannung aus dem 20er-Jahre-Wien:
Empfehlung!
Winfried Stanzick in sandammeer.at 09/2006:
http://www.sandammeer.at/rezensionen/balaka-eisfluestern.htm
Harald Klauhs in Die Furche Nr. 46/ 16. November
2006:
"Sie erkannte ihn
sofort"
Bettina Balàkas Roman "Eisflüstern":
engagierter Krimi über das Mörderische
des Krieges
Bis nach Wladiwostok ist er
gekommen, der k.u.k. Oberleutnant Balthasar Beck,
8000 Kilometer in
acht Jahren, hin und zurück. Erst im Herbst
1922 bringt ihn ein Donauschlepper zurück
bis Mannswörth. Grauenvolles hat er gesehen,
Unfassbares erlebt, und unendlich viel gefroren.
Als Offizier eines Kaiserreichs hat er 1914 Wien
verlassen, war Kriegsgefangener, kämpfte in
der Roten Armee, und am Anfang von Bettina Balàkas
Roman Eisflüstern kehrt er zerlumpt in eine
winzige Republik zurück. Damit nicht genug:
Als er weg musste, hat er eine Frau zurückgelassen,
die schwanger war. Hat sie auf ihn gewartet? Was
wird das Kind zu dem ihm fremden Mann sagen? Solche
Fragen sind es, die Beck durch den Kopf gehen,
als er im Türkenschanzpark eine Parkbank "bezieht",
weil er sich nicht nach Hause wagt. Zur gleichen
Zeit wird im Hinterhof von Becks Wohnhaus ein Skelett
gefunden, schön aufbereitet auf einem Stück
grünen Filzes, nur ein Oberschenkelknochen
fehlt.
Atmosphärisch dicht beginnt das Buch. Der
Einstieg signalisiert zugleich, dass es sich dabei
um eine Kombination aus einem historischen und
einem Kriminalroman handelt. Ganz anders aber als
in Dan Browns ebenso erfolgreichem wie spekulativem
Thriller Sakrileg vermengt die 1966 in Salzburg
geborene Autorin die Genres nicht, um die Leserschaft
zu verdoppeln, sondern um das Mörderische
des Krieges sinnfällig zu machen. Eisflüstern
ist nicht nur ein spannender Krimi, nicht nur ein
penibel recherchierter Roman über den dumpfen
Nachhall der Donaumonarchie, sondern auch ein engagiertes
Buch. In eindringlichen Bildern führt es vor
Augen, wie die Todesmaschinerie des Krieges fortwirkt
in die Friedenszeit.
Eines Tages steht Beck dann doch vor der Türe,
hinter der er sich viele Jahre zuvor von seiner
Frau Marianne verabschiedet hat – gespannt,
wer öffnen wird. "Sie erkannte ihn sofort",
heißt es lapidar. Dass er ihr in der Folge
verschweigt, am Baikalsee eine Geliebte zurückgelassen
zu haben, und sie ihm verschweigt, ihren Verehrer
an seiner statt erwartet zu haben, hilft, die Ehe
fortzusetzen. Für die Tochter jedoch bleibt
Beck vorerst einmal "keiner von uns".
Er ist jetzt aber entschlossen, nicht nur in seine
Familie, sondern auch in seinen Beruf als Kriminalinspektor
zurückzukehren. Dabei kommt ihm der Skelettfund
in seinem Wohnhaus zu Hilfe. Und bald danach wird
die nächste Leiche entdeckt.
In der Verschränkung der verschiedenen Ebenen
des Romans zeigt sich die kompositorische Kunst
der Autorin: Wie bei einer Symphonie schlägt
sie mehrere Themen an und verknüpft Gegenwärtiges
mit Vergangenem, Privates mit Beruflichem, Erlebtes
mit Erinnertem bzw. Erdachtem zuletzt zu einem
Ganzen. Diese Struktur bietet dem Leser nicht nur
größtmögliche Abwechslung, sie
hat auch den Vorteil, die Spannung bis zum letzten
Kapitel zu erhalten. Als die dritte Leiche, wieder
mit einem versteckten Hinweis auf den Mörder,
gefunden wird, dämmert Beck, dass die Toten
etwas mit ihm und seiner Zeit in einem Lager in
Sibirien zu tun haben (könnten).
Der Spannung wird bei Balàka nicht alles
untergeordnet: Zeitkolorit und die Moral spielen
eine ebenso große Rolle. Für Joseph
Roth verklärte sich die Habsburgermonarchie
durch alles, was danach kam. So nimmt der Bezirkshauptmann
Trotta das unehrenhafte Ausscheiden seines Sohnes
aus der Armee vergleichsweise gelassen hin. Becks
Vater dagegen wird bei Balàka zum sadistischen
Tyrannen, der seinen Sohn dafür verachtet,
dass er sich gefangen nehmen lässt.
Ä
hnlich wie Karl Kraus rechnet die Autorin mit dem
Gerede von der "großen Zeit" ab
und all jenen, die im Krieg nur so eine Art Abenteuer
sehen wollen. Was dabei ein wenig zu kurz kommt,
ist die "Beziehungsgeschichte" zwischen
Beck und seiner Frau Marianne. Wie es die beiden
schaffen, wieder zusammenzufinden, wäre aber
wohl ein eigener Roman. Dieser hier erzählt
jedoch nachdrücklich davon, was passiert, "wenn
die Normalen allesamt kriminell" werden.
Christine Rigler
in http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/balaka_eisfluestern/
Sascha Michel in der Frankfurter
Rundschau, 13.12.2006:
http://www.fr-aktuell.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1030540
http://www.perlentaucher.de/buch/25983.html
Daniela Strigl
in Der Standard (Album), 13./14.1.2007
Weiße Flecken
"
Eisflüstern", Bettina Balàkas gelungener
Roman über das postkakanische Wien und einen
Kriegsheimkehrer
Wenn Beck bei minus 45 Grad ausatmete, entstand vor
seinem Mund eine Wolke aus weißen Kristallen,
mit einem eigenartigen, knisternden Geräusch,
'Eisflüstern' wurde das genannt." Oberleutnant
Balthasar Beck erinnert sich an das Kriegsgefangenenlager
in Sibirien, in dem es lange nicht so besinnlich-kreativ
zuging, wie es weiland dem Leutnant Heimito von Doderer
beschieden war. Wenn man heute nach weißen
Flecken im Geschichtsbild des Landes sucht, dann
findet man sie nicht um 1938, sondern um 1918. Es
gibt in der gegenwärtigen österreichischen
Literatur wenige Romane, die sich ernsthaft mit der
Zäsur des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch
der Monarchie und dem Leben in der neuen Republik
beschäftigen. Susanne Ayoub hat (mit Engelsgift)
Derartiges versucht und ist über düstere
Kolportage nicht hinausgekommen.
Jetzt hat Bettina
Balàka ein Buch vorgelegt,
das man, wäre militärische Metaphorik
hier nicht anrüchig, getrost einen Volltreffer
nennen könnte: Eisflüstern verknüpft
Zeitgeschehen, psychologische Studie und Krimihandlung
auf so verblüffend souveräne Weise, dass
man sich fragt, weshalb im allgemeinen Jubel über
das neue heimische Erzählwunder, über
die Herren Geiger, Hochgatterer, Glavinic und Kehlmann,
so wenig von Balàka die Rede war.
Zunächst ist dies alles andere als "Frauenliteratur",
in des Wortes einschränkender Bedeutung. Männlich
sind hier nicht nur die bevorzugten Erzählperspektiven, "männlich" im
Sinne herkömmlicher Zuschreibungen ist auch
die Autorenposition. In Eisflüstern nimmt
Balàka sich ein Stück österreichischer
Weltgeschichte vor, ohne Zögern und Zimperlichkeit,
und richtet es sich nach Bedarf zu. Balthasar Beck,
die Hauptfigur, erleidet ein typisches Heimkehrerschicksal:
1922 kehrt er, nach siebenjähriger Abwesenheit,
per Schiff aus Russland nach Wien zurück,
wo ihn die Autorin mit dezenter Symbolik beim "Friedhof
der Namenlosen" in Albern an Land gehen lässt.
Ein Kamerad ist, in Sichtweite des Leopoldsberges,
an Bord auf absurde Weise ums Leben gekommen. Lange
traut Beck sich nicht heim zu Frau und Tochter
- die er noch nie gesehen hat. Er hat Angst, seine
Marianne könnte inzwischen einen anderen gefunden
haben. Das hat sie tatsächlich, was aber nur
der Leser, nicht der Gatte erfährt, der schließlich
doch nach Hause findet.
Balthasar Beck ist ein geschlagener, demoralisierter
Mann, einer, der nicht einfach dort weitermachen
kann, wo er vor dem Krieg stand, als "das
Schlimmste, was ihm passieren konnte", fallende
Börsenkurse waren oder "ein ungemütliches
Diner oder ein lahmendes Pferd." Nicht der
Hunger und die Unruhen in der einstigen Haupt-
und Residenzstadt, nicht die neue Armut der Familie
entmutigen ihn: Er hat ständig vor Augen,
was er im Feld, im Lager erlebt und getan hat,
und Balàka schildert das Schreckliche mit
großer Genauigkeit, ganz unaufgeregt, ohne
falsches Tremolo und daher umso eindringlicher.
Die Autorin hat offenbar gründlich recherchiert,
historisches Gerüst und Kolorit überzeugen,
sieht man davon ab, dass ein defätistisch
aufmüpfiger Gymnasiast unter Franz Joseph
nicht strafweise an die Front gekommen sein kann:
Dienstpflichtig war man erst mit 21.
Ä
hnlich wie der junge Leutnant in Franz Werfels
zeitgenössischem Umbruchsroman Barbara oder
Die Frömmigkeit (1929) leidet Beck, obzwar
fortschrittlich gesinnt, unter dem Kollaps der
militärischen und staatlichen Ordnung, unter
dem Verlust des Offiziersprestiges. So sympathisierte
er zunächst mit den Bolschewiken, kämpfte
gar in der Roten Armee, um in Wien politische Abstinenz
zu beschließen und seiner Frau ihre Mitarbeit
bei den Kommunisten übel zu nehmen. Nach und
nach taut Beck auf, er bemüht sich, Autorität
anders auszuüben als sein despotischer Vater,
er findet wieder zu seiner Frau und gewinnt die
Zuneigung seiner Tochter.
Als Beck versucht, seinen alten Posten bei der
Kriminalpolizei zurückzuerobern, trifft er
seinen einstigen Freund und Vorgesetzten Moldawa
zu eben jener mittäglichen Stunde beim Cognac
am Schreibtisch an, die jener in Friedenszeiten
einzuhalten pflegte. Beck hatte also Recht gehabt
zu vermuten, dass, "auch wenn das Osmanische
Reich und das Zarenreich und das Deutsche Kaiserreich
auseinandergebrochen waren" die "uralte österreichische
Amtsgepflogenheit der ausgedehnten Mittagspause
immer noch bestand". Der Postenkommandant,
den der Leser schon als allzu fürsorglichen
Freund des Hauses kennen gelernt hat, gesteht dem
totgehofften Rivalen eine Bewährungsprobe
zu: Da gibt es einen passenden Fall um ein ausgegrabenes
Veteranenskelett und ermordete Offiziere a. D.,
der bald mit dem ermittelnden Beck verknüpft
zu sein scheint und der Autorin erlaubt, das postkakanische
Zeitpanorama mit dem roten Faden eines Kriminalrätsels
zusammenzuhalten.
Bettina Balàka beweist mit Eisflüstern,
dass konventionelles, mit Einfallsreichtum und
Lust am Detail praktiziertes Erzählen durchaus
spannend sein kann. Ob sie Balthasars froststarres
Innenleben ausbreitet oder Marianne über Gattenliebe
und Versuchung nachdenken lässt oder den jungen
Inspektor Ritschl (der kein Bösewicht ist) über
den verderblichen Einfluss der jüdischen Rasse:
Der Ton stimmt. Die Stärke von Eisflüstern
liegt nicht zuletzt im Atmosphärischen. Balàkas
Sprache ist präzis und sinnlich, zum Beispiel
bei der grandiosen Beschreibung einer im Mühlrad
hängenden Leiche. Und das Deutsch ist ein
kongenial österreichisches, bis auf wenige
Ausrutscher (wie das Wort "Fenstergardinen",
das auch in höheren Breiten überdeterminiert
wäre).
Vielleicht hätte man sich den Schluss der
Geschichte - nicht die Krimi-Lösung - so plausibel
wie das Ganze gewünscht. Die Freude über
ein hervorragendes Buch wird dadurch nicht getrübt.
(Daniela Strigl/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe,
13./14.1.2007)
Susanne Schaber in Literatur und Kritik 409/410,
November 2006:
Lose treibende Weltstücke
Zwischen den Kriegen: Balàkas Roman "Eisflüstern"
Da sitzen sie also im Central, schlürfen ihre
Melange, ordern Sandwiches und Dobostorte und tun
so, als wäre nichts geschehen. Balthasar Beck
drückt sich die Nase am Fenster des Kaffeehauses
platt und kann es nicht fassen: Man schreibt den
September 1922, er ist eben erst aus Krieg und
Gefangenschaft nach Wien zurückgekehrt. Und
nun das: Das Café Central, voller denn je,
daneben der neu eröffnete Herrenhof, und überall
Menschen, an denen der Krieg fast spurlos vorbeigegangen
zu sein scheint, während er selbst vor den
Türen steht und sich nicht traut, in sein
früheres Leben zurückzukehren.
"
Eisflüstern", so der Titel des neuen
Romans von Bettina Balàka, ist die Geschichte
einer Orientierungslosigkeit, eines Verstummens
und einer stillen Revolte. Sie führt zurück
ins Wien der Zwischenkriegsjahre und damit in eine
Gesellschaft ohne innere Heimat. Mit dem Untergang
des k.u.k. Reiches ist auch das eigene Selbstverständnis
verschwunden, mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs
der Glaube an Humanität und Menschenwürde.
Umso hektischer, aber auch vergeblicher die Versuche,
an das Lebensgefühl anzuknüpfen, das
einen vor 1914 getragen hat. Dobostorte und Melange,
Oper und Heuriger, alles wie immer, aber alles
auch ganz anders. Balàka zeichnet eine Epoche
des Übergangs und versucht sich dabei an einem
Kolossalgemälde. Das muss man sich trauen.
Umso größer das Staunen, wie selbstverständlich
sie es schafft, Geschichte plastisch werden zu
lassen und die Erfahrungen eines Menschen einzufangen,
den der Krieg aus der Bahn geworfen hat.
Balthasar Beck ist Kriminalbeamter, als man ihn
1914 einzieht. Schon ein Jahr später gerät
er in Gefangenschaft und wird in ein sibirisches
Lager überstellt. Er überlebt Schikanen
und Fronarbeit, kämpft auf der Seite der Roten
Armee gegen die Weißgardisten und findet
erst 1922 zurück nach Wien. Tagelang streunt
er durch die Stadt. Er hat keine Eile, zu Frau
und Kind nach Hause zu kommen und schiebt die Begegnung
immer wieder auf. Wer weiß, ob ihn daheim
nicht ein neuer Mann und die längst erkaltete
Liebe von Marianne erwarten? Für seine Tochter
Aimée ist er ein Fremder, und überhaupt:
Hat er mit dieser Welt von gestern noch etwas zu
schaffen? Es dauert drei Wochen, ehe er an Mariannes
Türe klopft. Sie nimmt ihn wieder auf, das
wohl. Doch sie spürt, wie kalt es in ihm ist,
sibirisch kalt. "Wenn Beck bei minus 45 Grad
ausatmete, entstand vor seinem Mund eine Wolke
aus weißen Kristallen, mit einem eigenartigen,
knisternden Geräusch. Eisflüstern wurde
das genannt."
Dieses "Eisflüstern" ist nicht nur
Titel des Romans, sondern gibt auch dessen Stimmung
vor: Der Roman ist die Geschichte einer inneren
Vereisung. Ohne sie wäre Beck in Sibirien
zusammengebrochen, sie hat ihn vor dem Verrücktwerden
gerettet. Doch nun, zurück in Wien, wird er
die Kälte nicht mehr los. "Er wusste,
dass die Welt in Stücke zerfallen war, dass
an der Peripherie der lose treibenden Weltstücke
sich Wahnsinn und Eis und erschossene Kinder drängten,
dann in den inneren Schichten das Gleiche, immer
weiter, nur ganz in der Mitte gab es winzigkleine
Stücke von Erinnerung oder Wünschen."
Auch die erzählerische Form von Balàkas
Buch spiegelt die zerborstene Welt. Das einstmals
sinnstiftende große Gefüge ist zerbrochen,
der Roman zerfällt in 35 Splitter, jeder von
ihnen mit einem lakonischen Titel versehen: eine
Serie von Fragmenten, die immer wieder zusammenkommen
und auseinanderdriften. Eine gelungene Form für
ein Buch über desperate Zeiten.
Beck sucht in sein einstiges Leben zurückzufinden.
Er wird bei seinem früheren Chef vorstellig.
Ob man ihn noch brauchen könne? Eine Probezeit
wird ihm zugestanden, gerade jetzt scheint man
einen wie ihn vielleicht doch wieder zu benötigen:
Eine Serie mysteriöser Morde lässt die
Polizei im Regen stehen. Die Toten, allesamt Kriegsheimkehrer,
sind auf grausamste Weise gequält und umgebracht
worden. Vielleicht kann Beck da was finden? Ihm
zur Seite stellt man den Kollegen Ritschl, der
sich alsbald als strammer Nationaler entpuppt und
seinerseits Beck zu observieren sucht. Könnte
doch sein, dass Beck mit dem oder den Mördern
unter einer Decke steckt, mutmaßt er. Und überhaupt:
Ob der sich nicht schäme für seine Frau,
immerhin sei Marianne Jüdin und Aimée
ein Judenbankert. Wo's doch jetzt hoch an der Zeit
sei, aktiv zu werden: "Alles Jüdische,
dem Goldenen Kalb des Zynismus Geopferte muss ausgeschwitzt
werden. Das Jüdische ist die Skepsis, das
Deutsche die Begeisterung! Die Herzen müssen
vom reinen Leben durchsäftet werden, nicht
die Gehirne vom Intellektuellendreck verödet."
Vieles gehört aus-, anderes nur angesprochen.
Bettina Balàka findet die Balance, sie hört
die Töne hinter den Parolen, ortet die Verwirrung
und Unsicherheit der Menschen in jenen Jahren,
da ihnen der feste Boden unter den Füßen
entzogen ist. Gerade auch dieser Beck taumelt durch
den Alltag. Der Glaube an die Tröstungen von
Ideologie oder Religion ist ihm längst abhanden
gekommen, das Glück im stillen Winkel entpuppt
sich als faules Versprechen. Mit seiner Frau will
sich die frühere Innigkeit nur langsam wieder
einstellen. Während seiner Abwesenheit hat
Marianne an Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit
gewonnen. Hinter diese Errungenschaften will sie
nicht mehr zurück, die Verbindung mit Beck
braucht ein neues Fundament. Doch das ist schwer
zu bauen in einer Situation, da Misstrauen beider
Gefühle lähmt. Was soll und kann Beck
Marianne von seinem Leben in Russland erzählen,
wie weit kann er gehen - und wieviel davon möchte
sie überhaupt wissen?
Nun, da ihn Friede umgibt, überfallen Beck
die Erinnerungen gemeiner denn je. Alles scheint
wieder da: die Kälte in den Baracken des Lagers,
der Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn, die
Angst vor Typhus und Fieber, der Hunger. Diebstahl,
Betrug und Verrat gehören zum Alltag, Beck
stumpft ab. Da ist noch Valentina, bei der er am
Baikalsee untergeschlüpft war. Ein Taschentuch
hat sie ihm mitgegeben auf dem Weg nach Hause,
ihre kyrillischen Initialen hat sie ungelenk
in eine der Ecken gestickt.
Das alles könnte zum Rührstück werden.
Bettina Balàka bleibt vorsichtig und zurückhaltend.
Dort, wo ihr Erfahrung und Detailkenntnisse fehlen,
schweigt sie.
Andernorts hat sie genau recherchiert, so dass
ihr Roman erstaunlich sinnlich und vital wirkt.
Allein der Kriminalfall, der Sibirien und Wien
ein weiteres Mal aneinanderkettet, gerät in
seiner Drastik zum Holzschnitt. Es scheint fast,
als hätte die Autorin ihrem eigentlichen Stoff,
der Heimkehrergeschichte, nicht ganz getraut. Und
so schiebt sie ihm die Kriminalhandlung unter.
Der Fall ist spannend, auch das Finale mit seiner
Wendung ins Unerwartete. Aber manchmal kommen sich
die beiden Geschichten dann eben doch in die Quere.
Sie haben nicht die gleiche Tonart und Lautstärke.
Doch die leichte Störung hält nicht
nachhaltig an.
"
Die Erinnerungen konnten einen krank machen, die
Angst vor dem Kommenden auch; man hatte keine Gegenwart." Bettina
Balàka erkundet das Niemandsland. Man
bleibt ihr gebannt auf den Fersen.
BRIGITTE Nr. 3, 17.1.2007:
Bewohner
im Eispalast
Bettina Balàka, bekannt geworden durch
fantastische Erzählbände wie "road
movies", begibt sich in ihrem zweiten Roman "Eisflüstern" zurück
ins Jahr 1922. Als Balthasar Beck nach jahrelanger
Kriegsgefangenschaft von Russland nach Wien heimkehrt,
sind die Spuren des ersten Weltkriegs noch unübersehbar.
Trotzdem nimmt das Leben fast schon seinen geregelten
Lauf und die Zukunft dämmert bereits bedrohlich
herauf. Die Distanz zur Familie scheint zunächst
unüberbrückbar, schlimme Erinnerungen überschatten
alles. Wie zum Beispiel der Schrecken des Eisflüsterns
... Aber immerhin: seinen alten Job bei der Mordkommission
bekommt Beck wieder. Sein erster Fall ist eine
brutale Mordserie, deren Spuren in seine eigene
sibirische Vergangenheit zurückreichen. Mehr
wird nicht verraten. Denn die mehrfach preisgekrönte
Autorin malt nicht nur ein außergewöhnlich
lebendiges und einfühlsames Sittenbild der
physisch wie psychisch ramponierten Zwischenkriegsgesellschaft.
Sondern liefert zudem eine spannungsgeladene Zeitstudie.
Werner Krause in der Kleinen Zeitung,
9.12.2006:
Grandiose Erzählkunst
Viele falsche Fährten
Nach wenigen Seiten meint
man, einen bisher unveröffentlichten
Roman von Joseph Roth in Händen zu halten,
alsbald scheint es, als hätte Meister Mankell
einen Wien-Krimi geschrieben. Falsche Fährten.
Die Autorin heißt Bettina Balàka und
ihr ist ein großartiges Buch über das
morbide Wien der 20er-Jahre geglückt; Thriller,
Gesellschaftspanorama, Tragödie – ein
grandioses Gesamtprosawerk.
Frido Hütter in der Kleinen Zeitung (Graz),
10.1.2007:
Das anhängliche Echo Sibiriens
" Eisflüstern" – ein Buch
des Jahres, das wohl noch einige Jahre Gültigkeit
behalten wird. Bettina Balàka schrieb über
zerbrochene Reiche und gebrochene Männerseelen.
Er
hatte gewusst, dass er nur überleben konnte,
indem er sich ganz und gar in eine innere Eiswelt
zurückzog, in der ein Tag so bedeutungslos
wie der andere verging, jeden Morgen fand er sich
festgefroren an seiner Pritsche in einem Erdbunker,
er hatte Mariannes Bildnis begraben in einem grauenvollen
Leichenhaufen von Kameraden, ungezählte, die
von den Pritschen herabgestürzt waren, die
monatelang im Hof aufgestapelt lagen wie Scheiter,
und die er mit anderen grauen Menschen im Frühjahr
begrub.
Eindringlich, ohne falsche Feierlichkeit schildert
Bettina Balàka die Jahre des knappen Überlebens
in Sibirien, deren anhängliches Echo den 1922
heimgekehrten Oberleutnant Balthasar Beck noch
lange Zeit in Wien begleitet.
Bildermacht
" Eisflüstern", bereits etliche
tausendmal verkauft, aber doch (noch) im Schlagschatten
von vorjährigen Megasellern von Daniel Kehlmann,
Arno Geiger etc., ist zweifellos eines der besten
Bücher der letzten Saison. Mit mächtigen
Bildern, detaillierten Schilderungen und ungeheurer
Einfühlung in die von Gott, Kaiser und Vaterland
verhökerten Mannsbilder hat dieser Roman eine
Qualität, die an Werke Christoph Ransmayrs
und Isabel Allendes gemahnt. Die Balàka,
längst literarische Fixgröße, hat
sich damit in ihren einstweiligen Olymp geschrieben.
Im Wiener Traditionscafé Eiles erregt die
Autorin keinerlei Aufsehen: Unauffällig winterlich
gewandet, die blonden Haare in einem breiten Stirnband
geborgen, sitzt sie in einer Fensternische und
raucht. Kaffeehäuser sind ohnedies nicht ihr
klassisches Biotop. Schon eher Bibliotheken, Archive
und fallweise auch Flohmärkte. Auf Letzteren
hat sie viele Tagebücher von Teilnehmern am
1. Weltkrieg aufgefunden: "Es gibt wenige
weibliche Dokumente aus dieser Zeit", sagt
Bettina Balàka auf die Frage, warum die
Beschreibung männlicher Befindlichkeit in
ihrem Buch so eindrucksvoll dominiert.
Recherche
Drei Jahre hat sie an "Eisflüstern" gearbeitet,
rund zwei davon in Recherche investiert. Was bringt
eine 40-jährige, die auch als Lyrikerin reüssierte,
auf die Zeit der zerbrochenen Monarchie? "Das
liegt lange zurück", erzählt sie. "Für
mich war Habsburg eine ferne, historische Epoche
ohne persönliche Anbindung." Erst die
von der Regierung Kreisky erlaubte Heimkehr der
letzten Kaiserin, Zita, und später deren Ehrenbegräbnis
hätten ihr Interesse geweckt.
Qualen
Dazu komme ein spezieller Schauplatz irdischer
Qualen, das Lager: "Irgendein kluger Mensch
hat gesagt: Die paradigmatische Existenz des 20.
Jahrhunderts ist die Lagerexistenz. Tatsächlich
war das eine Zeit, in der Millionen in Lagern verschwanden.
Mich hat interessiert, mit Hilfe welcher psychologischer
Mechanismen man eine solche Situation überstehen
kann."
Balàkas Protagonist, Balthasar Beck, hat
es überstanden, findet sich aber als Kriminalpolizist
alsbald in einen Fall verstrickt, dessen Wurzeln
zurück in eine grauenvolle Tragödie in
Sibirien reichen. Womit zur erzählerischen
Qualität des Buches eine ordentliche Portion
Spannung kommt, die bis zur letzten Seite anhält.
News Nr. 51/52, 21. Dezember 2006: "Top-Roman über
Wien nach 1918."
Barbara Talmon in SBD.bibliotheksservice,
November 2006:
Bettina Balàka: Eisflüstern
Wien 1922: der ehemalige Kriminalpolizist Balthasar
Beck kommt aus der russischen Gefangenschaft in
ein Land, eine Gesellschaft und eine Familie zurück,
die ihm fremd geworden sind. Die Daheimgebliebenen
scheinen durch den Zusammenbruch der alten KuK-Herrlichkeit
mit ihrem starren Klassensystem nicht weniger verstört
als der Heimkehrer durch seine Kriegserlebnisse.
Beim zaghaften Versuch, im alten Beruf wieder Fuss
zu fassen, soll Beck in einer Reihe mysteriöser
Mordfälle ermitteln, die offensichtlich in
Zusammenhang mit seiner Zeit in einem sibirischen
Lager stehen. Nun muss sich der alte Soldat quälenden
Erinnerungen stellen. Die spannende Krimihandlung
bildet allerdings nur den Rahmen für das klarsichtige
Porträt einer durch Krieg, Elend und Schuld
traumatisierten haltlosen Generation, das in seinen
scharfsinnigen politischen und psychologischen Analysen
viele Parallelen zur aktuellen Weltlage aufweist.
Ein aussergewöhnliches Buch für Leser
mit gehobenen Ansprüchen.
Ulrike Sárkány
im NDR, 22.1.2007:
http://www.ndrkultur.de/ndrkultur_pages_stdep/0,2515,OID3597754_REF164,00.html
Barbara Belic auf steiermark.orf.at,
Jänner 2007:
http://steiermark.orf.at/magazin/immergutdrauf/kultur/stories/130280/
Jan Koneffke im Deutschlandfunk,
06.02.2007:
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/590901/
Susanne Rössler in
Österreich, 28. Oktober 2006:
Bestseller aus Österreich
Die 40-jährige Salzburgerin Bettina Balàka
kam mit Eisflüstern, einem erzählerisch
dichten, historisch genauen Panorama des entbehrungsreichen
Alltags im Nachkriegsösterreich in die Top
Ten der ORF-Bestenliste im November, die von heimischen
Literaturkritikern erstellt wird.
Markus Bundi in der Aargauer
Zeitung, 26. Oktober 2006:
Vor und nach dem Krieg
Eisflüstern In Bettina Balàkas neuem
Roman kämpft Kommissar Balthasar Beck gegen
das Trauma des Ersten Weltkriegs.
Wenn heute eine Schriftstellerin vier Jahre lang
kein Buch mehr publiziert, beginnt man sich Sorgen
zu machen. Fällt ihr nichts mehr ein? Ist sie
ernsthaft erkrankt? Hat sie den Beruf gewechselt?
Doch gibt es eine weitere mögliche Ursache:
Sie arbeitet an einem Ding, an einem großen
Ding, wie es Bettina Balàka tat. Bis ins
Jahr 2002 veröffentlichte die Autorin drei
Gedichtbände, drei Bände mit Erzählungen,
einen kurzen Roman und einen Essay – und dann,
so möchte man meinen, holte sie ganz tief Luft,
setzte sich hin, versetzte sich zurück ins
Wien von 1922 und setzte ein bei der Rückkehr
von Balthasar Beck, einem Kriminalkommissar Mitte
dreissig, für den der Krieg, sprich die Kriegsgefangenschaft
in Sibirien, etwas länger gedauert hatte.
"Eisflüstern" nennt die 40-jährige
Autorin ihren 400 Seiten starken Roman; "Eisflüstern",
das meint das "eigenartige, knisternde Geräusch",
wenn man bei minus 45 Grad ausatmet. Aus solch unwirscher
Gegend kehrt Beck zurück, wissend, dass zu
Hause Frau und Kind auf ihn warten, wissend auch,
dass er trotz seiner 34 Jahre bereits zum Greis
geworden ist. Er beschließt, nicht sogleich
die Familie aufzusuchen, will sich in der Heimat
erst akklimatisieren, sich der neuen Gegenwart annähern,
die jedoch immer wieder von Erinnerungen an die
Gräuel des Krieges verdrängt wird.
Keine einfache Zeit, auch rückblickend. Balàka
stellt ihre Hauptfigur mitten in ein dunkles Kapitel
österreichischer Geschichte: Die Monarchie
ist abgeschafft, die Kriegsschuld drückt, der
Antisemitismus keimt neu auf. Wien liegt auf jener
Linie, die den Westen künftig vom Osten zu
trennen scheint, auf der einen Seite das Deutschtum
(das Aufkommen der NSDAP), auf der anderen der Kommunismus
(1922 ist auch das Gründungsjahr der UdSSR,
der "Union der sozialistischen Sowjetrepubliken").
Beck gewinnt nach und nach einen Überblick,
findet schließlich zurück in die Familie,
lernt seine Tochter kennen, und er bekommt sogar
den Job bei der Polizei zurück – wenn
auch nur auf Probe. Doch sein neues Leben wird überschattet,
zwei seltsame Morde ereignen sich, und beide verweisen
auf Becks Zeit in Sibirien. Es gibt kein zweites
Leben, nach dem Krieg ist – nicht nur historisch
betrachtet – vor dem Krieg, und Beck sieht
sich plötzlich selbst im Kreis der Verdächtigen.
Im Zuge der Ermittlungen setzt sich das Puzzle allmählich
zusammen, jenes, die Mordfälle betreffend,
aber auch jenes, das des ehemaligen Oberleutnants
Vergangenheit – Becks Rolle(n) im Krieg –
allmählich erhellt.
Die Spannung, die der Roman um die beiden grausamen
Mordfälle aufbaut, wie auch die Geheimnisse
um die Hauptfigur Beck machen jedoch nur einen Teil
von "Eisflüstern" aus, die Oberfläche
sozusagen. Getragen wird dieser Roman von einer
dichten und überaus präzisen Sprache,
einem Duktus der Langsamkeit, darin sich die zwischenmenschlichen
Beziehungen der Figuren dem Leser auf organische
Weise erschliessen. Denn erst im gesellschaftlichen
Gefüge, im Geflecht der Menschen in ihrer Zeit,
wird Becks Schicksal zu einer einzigartigen Geschichte,
zu einem erschütternden Exempel.
Hertwiga Kröss in den "aktuellen
Buchtipps" für Februar 2007, gemeinsam
erstellt von der STUBE und dem Österreichischen
Bibliothekswerk:
http://www.biblio.at/buchtipps/
Katharina Narbutovic in WDR3: "Gutenbergs Welt",
22. Oktober 2006:
Wien. 1922. Eine
ganz gewöhnliche Bäckerei. Doch als Balthasar
Beck, der gerade erst aus dem Krieg heimgekehrt
ist, den Laden betritt, da scheint ihm, er sei in
einer orientalischen Pfefferkammer gelandet: so
betörend duften die frischgebackenen Milchbrote,
Rundsemmeln, Apfel- und Marillenkuchen mit dem karamelisierten
Staubzucker obenauf, dass ihm ganz schwindelig wird.
Ein Sog geht aus von den Wohlgerüchen wie von
einer weichen Schneewehe in sibirischer Eiseskälte,
auf die man sich betten möchte, um ein wenig
auszuruhen – und auf immer einzuschlafen.
Gäbe Balthasar Beck dem Sirenengesang der süßen
Kuchenstücke nach, er würde in einen Fressrausch
verfallen, wahllos alles in sich hineinschlingen,
um es kurz darauf wieder zu erbrechen, im Erbrochenen
nach Fruchtstückchen suchen, um diese sich
erneut in den Mund zu schieben, und in einer Endlosschleife
landen aus Fressrausch und Erbrechen und Wahn. Nicht
leicht ist es, nach einem Leben in der Finsternis
in den normalen Alltag zurückzufinden. Nach
acht Jahren Krieg und Gefangenschaft verträgt
ein auf ein Nichts zusammengeschrumpfter Magen nur
mehr kleinste Brocken trockenen Brots.
34 Jahre ist Balthasar
Beck alt, als er im September 1922 aus russischer
Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt. Da ist
der Krieg schon seit vier Jahren vorbei. Das Leben
pulsiert, die Kaffeehäuser sind voller Menschen,
und alle scheinen sich an die neue Zeit, die Republik
und ein Österreich ohne Kaiser gewöhnt
zu haben. In dieser Umgebung wirkt der abgemagerte
Beck mit seiner zerschlissenen k.u.k.-Uniform wie
eine Schießbudenfigur, wie ein Wiedergänger,
wie "geschichtsloser Knochenmüll".
Und auch für Beck ist es, als sei er auf einem
anderen Stern gelandet. Er hatte Wien im Hochsommer
1914 verlassen, als Offiziere in der Gesellschaft
noch etwas galten und alle glaubten, Krieg sei so
etwas wie ein Tennismatch, "nach dem man einander
die Hand schüttelte und Erfrischungen gereicht
werden". Und wie ganz Österreich hatte
auch er in seiner Vorstellung keinen Plan vorrätig
gehabt "für etwas, das außerhalb"
der "Kaiserwelt lag, an der" sich alle
"festgehalten" hatten. Ein einsamer Fremder
in einer zerborstenen Welt, stromert Balthasar Beck
über Tage durch Wien, nächtigt im Türkenschanzpark
und zögert, nach Hause zurückzukehren
– wer weiß, ob seine Frau Marianne nach
Jahren ohne jedes Lebenszeichen sich nicht schon
längst einen anderen gesucht hat.
Doch auch dann,
bereits zurückgekehrt zu Frau und sechsjähriger
Tochter, wird Balthasar Beck die Einsamkeit nicht
los: die Einsamkeit der Erinnerung an die Hölle
von Krieg und Jahren der Gefangenschaft in einem
Lager unweit der Grenze zur Mandschurei, eine Hölle,
in der Menschen einander nicht nur getötet,
sondern auch in sadistischem Blutrausch einander
gequält und in der Seele zerstört haben
– wie den zwölfjährigen Jungen,
der wegen eines winzigen gestohlenen Messers von
kultivierten, gebildeten Männern eine endlose
Nacht lang sodomiert wurde und der sich darauf einen
rostigen Nagel in die Halsschlagader trieb. Und
die Einsamkeit der inneren Eiswelt, in die Balthasar
Beck sich eingekapselt hat, um die vielen Höllenkreise
als Mensch zu überleben und sich selbst nicht
über all dem Wahn und Grauen abhanden zu kommen.
Wie Bettina Balàka es als Nachgeborener gelingt,
die Erfahrungs- und Erkenntnisessenz der eisigen
Jahre des Ersten Weltkriegs zu erfassen und in ein
"Eisflüstern" zu gießen, das
ihren Roman als Grundton durchzieht, das ist beeindruckend.
Ö1 Magazin, September
2006:
Mit diesem Roman führt eine der talentiertesten
jungen österreichischen Autorinnen ihre Leser
zurück ins Wien der frühen 1920er Jahre.
Die Monarchie ist längst abgeschafft, lebt
aber in den Köpfen noch weiter, ein sich langsam
radikalisierender Antisemitismus wird spürbar.
In dieses historisch genau recherchierte Gesellschaftspanorama
stellt Bettina Balàka den Kriegsheimkehrer
Balthasar Beck. Mühsam versucht er sich in
seinem früheren Leben und an seinem alten Arbeitsplatz,
bei der Kriminalpolizei, wieder zurechtzufinden.
Grauenvolle Erinnerungen an die Gräuel des
Krieges vermischen sich mit aktuellen, rätselhaften
Mordfällen...
Buch der Woche 25.9.-1.10.
Alexander Kluy im Rheinischen
Merkur Nr. 40, 5.10.2006:
KOMMISSARE AUF ABWEGEN
Wien, 1922. Balthasar Beck, einst Kriminalinspektor,
kehrt nach Krieg und sieben Jahren in russischer
Kriegsgefangenschaft in seine Heimatstadt zurück.
Nach grauenhaften Grenzerfahrungen ist er ein anderer,
von der Donaumonarchie sind nur noch Schemen vorhanden,
durchsetzt von Not, Elend, Hunger und neuen politischen
Ressentiments. Frau und Kind sind ihm halbfremd
geworden. Und dann wird er noch bedrängt von
einer rätselhaften Mordserie. Die 40-jährige,
in Wien lebende Autorin findet eindrucksvolle Bilder
in einer kraftvollen und abwechslungsreichen Sprache.
Erwin Riess in der Presse
(Spectrum), 30.09.2006
Das Skelett im Hinterhof
Bettina Balàka legt mit "Eisflüstern"
ein erstaunliches Buch vor: ein Epos über das
verarmte Wien der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet
in einen Kriminalfall, dessen Auflösung bis
zum Schluss für Spannung sorgt.
Wien, im Herbst 1922. Nach sie ben Jahren Abwesenheit
kehrt der einstige Oberleutnant der k.u.k. Armee
Balthasar Beck aus Russland zurück. Auf der
Höhe von Mannswörth verlässt er ein
Schleppschiff und schlägt sich nach Wien durch.
Zerlumpt, erschöpft und nur 42 Kilogramm schwer
meldet er sich bei der Heimkehrerstelle am Nordbahnhof.
Als Beck seine Frau Marianne 1915 verließ,
wusste er zwar, dass sie schwanger war, darüber
hinaus hatte er aber durch sieben Jahre hindurch
keinerlei Informationen über seine Familie.
Denn er war früh in russische Kriegsgefangenschaft
geraten und sukzessive Richtung Osten verbracht
worden: Von Westsibirien bis Wladiwostok und an
die Grenze zur Mandschurei wurde er von einem Lager
ins nächste verschleppt. Später kämpfte
er für die Bolschewiken gegen die von General
Koltschak geführte Gegenrevolution - traf dort
auf frühere Kameraden - und hatte eine längere
Affäre mit einer Bäuerin am Baikalsee.
Währenddessen brachte Marianne in Wien ein
Mädchen, Aimée, zur Welt und führte
ihren Krieg gegen Hunger, Kälte und Hyperinflation
in der zu einer Metropole des Elends herabgekommenen
ehemaligen Reichshauptstadt. Sie nahm eine Büroarbeit
an und schöpfte daraus ein starkes Selbstbewusstsein.
Die neuen republikanischen Verhältnisse sahen
die frühere Offiziersgattin rauchend und mit
Bubikopf ihr Leben meistern; abends las Marianne
für die "Rote Fahne", die Zeitung
der jungen KPÖ, Korrektur. Die Wandlung von
der behüteten Offiziersgattin zur politisch
und beruflich aktiven Republikanerin konnte größer
nicht sein.
Der Heimkehrer braucht lange, bis er die Kraft findet,
seine Familie aufzusuchen. Mit einer Mischung aus
Schock und Erleichterung nimmt Marianne den verschollen
Geglaubten auf. Noch ist der Mann, der von den Erlebnissen
in den Lagern, von Krieg und Bürgerkrieg schwer
traumatisiert ist, nicht wirklich zu Hause angekommen.
Schon in der ersten Nacht verlässt er die Schlafstatt
neben seiner Frau und legt sich im Vorzimmer zum
alten Hund auf den Boden. Als das Mädchen sich
morgens über ihn beugt, antwortet er mit einem
Reflex der Faust, der Aimée um ein Haar schwer
verletzt. Das Töchterchen ist von der Wildheit
und Fremdheit der Jammergestalt abgestoßen,
lange Zeit gelingt es Beck nicht, eine Beziehung
zu seinem Kind aufzubauen, was damit zu tun hat,
dass Beck einen despotischen Vater hatte, der sein
Kind mit Prügeln, Strafen und Vorwürfen
überschüttete und der im ersten Jahr der
Lagerexistenz dem Gefangenen Beck ausrichten ließ,
er geniere sich dafür, einen Sohn zu haben,
der die Frechheit und Feigheit besäße,
sich vom Feind überrumpeln zu lassen.
Tagsüber treibt Beck sich im winterlichen Wien
umher, auf der Suche nach Nahrung und in der Nähe
seiner alten Arbeitsstätte am Kriminalkommissariat.
Sein früherer Kollege Moldawa vermag ihm zwar
keine Beamtenposition in Aussicht zu stellen, die
Mitarbeit an einem ungewöhnlichen Kriminalfall
verbessert Becks Chancen aber so nachhaltig, dass
sein Wiedereintritt in die alte Berufslaufbahn als
Polizeioffizier möglich wird. Lange Zeit hat
es den Anschein, als würde Beck nicht nur selbst
in diesen Kriminalfall verstrickt sein, einige Tage
lang steht er sogar selbst unter Tatverdacht. Ein
Skelett war in jenem Haus aufgetaucht, in dem Beck
wohnte, kurz darauf wurde auf dem Treibrad einer
Schiffsmühle eine Leiche gefunden, zerfetzt
von einer russischen Nagaika-Peitsche und um neun
Finger amputiert. Schließlich taucht noch
die Leiche eines weiteren Kriegsheimkehrers und
ehemaligen kaiserlichen Offiziers in einem Eisblock
auf. Beck gelingt es, den Zusammenhang zwischen
den Morden so weit zu rekonstruieren, dass klar
wird: Sie gehörten einem Offizierskomitee eines
Lagers in Sibirien an. Das Komitee bestand aber
noch aus einem vierten Offizier: Balthasar Beck.
Der Heimkehrer kann sich also ausrechnen, wann er
an die Reihe kommen wird, hat aber keine Ahnung,
weshalb und durch wen er gemeuchelt werden soll.
Die Lösung des Falles soll hier nicht verraten
werden, angemerkt sei nur, dass ein aufgeweckter
Wiener Mittelschüler namens Lintschinger darin
eine zentrale Rolle spielt. Das Komitee war nämlich
dazu verpflichtet, Fluchtpläne dem Kommandanten
zu melden, andernfalls zehn Prozent der Lager-insassen
getötet würden. Als eines Tages eine Gruppe
von Gefangenen einen Fluchtplan ausheckte, wurde
das Vorhaben verraten. Das Komitee meldete dies
der Obrigkeit. Daraufhin wurden die zehn Fluchtbereiten
vor versammelter Lagerbelegschaft gepeitscht und
im Schnee liegen gelassen. Bettina Balàka
legt mit diesem umfangreichen Roman ein erstaunliches
Werk vor. Ein Epos über das devastierte Wien
der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen
Kriminalfall, dessen Auflösung bis zum letzten
Moment für Spannung sorgt - wenn auch der Showdown
ein wenig konstruiert wirkt. An dem penibel gearbeiteten
Text faszinieren besonders die souveräne Sprachbe-herrschung
in der Sphäre des Krieges und dessen Widerspiegelung
in den Verwerfungen von Becks Psyche. Die Anordnung
in kurzen Kapiteln, das Arbeiten mit Rückblenden
und psychischen Übertragungen sind durchwegs
gelungen.
Verstörend wirkt indes die von den Personen
ausgehende Kälte. Beschrieben wird ein liebendes
Paar, eine Familie, die trotz aller Anfechtungen
durch den Krieg gekommen ist und deren Mitglieder
einander wieder gefunden hat. Kaum aber wird man
der Emotionen teilhaftig, die diese Menschen ja
unbeschadet aller durchlittenen Krisen haben müssen.
Streckenweise bewegen sich Beck und seine Frau wie
ferngesteuert durch eine romanhafte Versuchsanordnung,
in der das Entsetzliche des Kriegs und des Lagerlebens,
das Ertragen von Hunger, Kälte und Einsamkeit,
zur Prostitution gezwungenen Kindern, von Rattenplage
und tyrannischen Kommandanten ausgemalt werden.
Die Autorin ruft diesen Eindruck der Kälte
bewusst hervor - nicht umsonst trägt das Buch
ja den Titel "Eisflüstern" -, wohl
um deutlich zu machen, dass Verhältnisse Menschen
niederdrücken und das Menschliche in den Personen
ersticken. Dieserart entfaltet Balàka ein
kunstvolles, oft dichtes, aber auch seltsam distanziertes
Gemälde vom Krieg und den von ihm zerstörten
Seelenlandschaften. So ist der beeindruckende Roman
auch als Studie über die vom Krieg traumatisierte
Psyche eines überlebenden Paares zu lesen
Christa Nebenführ in der WIENERIN Nr. 210,
März 2007:
Als Beck 1922 aus der Gefangenschaft heimkehrt,
findet er ein verändertes Österreich vor.
Präzise recherchiert, spannend bis zur letzten
Seite. Ein Glücksfall in der österreichischen
Literatur.
Katrin Schuster in der
Stuttgarter Zeitung Nr. 63, 16. März 2007:
Wenn die Luft beim Ausatmen zu Kristallen gefriert
Der Kriegsheimkehrer soll wieder Mörder aufspüren:
Bettina Balàkas Roman "Eisflüstern"Der
Protagonist des Romans "Eisflüstern"
verdankt seiner Autorin nicht nur den Gleichlaut
im Namen – Bettina Balàka nennt ihn
Balthasar Beck –, sondern auch das Datum seiner
Geburt, den 27. März, allerdings des Jahres
1888, nicht 1966 wie Balàka. Beck ist 26
Jahre alt, als im Juli 1914 der Erste Weltkrieg
ausbricht. Fünf Jahre nachdem er aus dem Militär
und damit der Familientradition ausgetreten war,
um Polizist zu werden, wird er erneut eingezogen.
Und gerät recht umgehend in russische Gefangenschaft.
Erst sieben Jahre später kehrt er heim nach
Wien, man schreibt September 1922.
"Beck fand keinen Anschluss an die Zeit, er
konnte sich erinnern in Bildern und Sätzen
und Ereignisabläufen, ohne je zurückzufinden
in dieses Gefühl, dass er sein eigener Herr
war." Doch nicht nur Beck, auch Wien hat sich
verändert. Das Kaiserreich ist tot, es lebe
die Republik! "Die Offiziere (...) die früher
hoffähig gewesen seien, seien mit Kriegsende
nicht einmal mehr hinterhoffähig", heißt
es. Viele der Rückkehrer leben auf der Straße,
auch Beck getraut sich drei Wochen lang nicht, an
die eigene Wohnungstür zu klopfen. Freiwillig
bleibt er ortlos, um dem eventuellen heimischen
Platzverlust nicht ins Auge sehen zu müssen.
Dann wagt er es, und: ja, Marianne hat auf ihn gewartet
(wenngleich nicht immer allein), auch seine Tochter
Aimée lernt er endlich kennen.
In der ersten Nacht flieht Balthasar Beck das Ehebett,
um neben dem Hund im Gang zu schlafen. Die erdrückende
Normalität, die ihn umgibt, ist dem Kriegsteilnehmer
schwer begreiflich, oft genug fehlen ihm die Worte,
die richtigen zumindest. Nicht so seiner Frau: "Sie
redete und redete, wie ein Wasserfall oder, wie
man neuerdings sagte: wie ein Maschinengewehr."
Andere Zeiten, andere Wörter: auch der Titel
des Romans ist solch ein kriegsbedingter Neuzugang
im beckschen Vokabular. "Eisflüstern"
nennt man das Knistern beim Ausatmen, wenn bei Temperaturen
unter 42 Grad minus die Feuchtigkeit der Lungenluft
zu winzigen Kristallen gefriert. Nur Menschen, die
wie Beck diesen Klang im eisigen Osten und am eigenen
Leib erfahren haben, wissen, was der Begriff bedeutet.
Andere Worte, andere Welt: so macht Balàka
lesbar, wie die Sprache unseren Kosmos und unsere
Gedanken definiert, wenn sie in den Köpfen
ihrer Personnage herumwandert, sie bedient sich
deshalb deren je eigener Stimme. Das liest sich
glücklich unprätentiös, obwohl es
allen Grund zur Eitelkeit böte: der Tonfall,
der Takt, die Melodie – da stimmt alles, immer.
Zumal sich "Eisflüstern" nicht allein
durch menschliche, sondern gleichermaßen durch
historische Authentizität auszeichnet; sichtlich
viel Recherche steckt in diesem Buch. Und daher
rührt eine beeindruckend poetische Wahrhaftigkeit.
Es ist mithin kein Zufall, dass Bettina Balàka
entlang der Geschichte über Erinnerung und
Verortung einen Krimi über Rache und Gerechtigkeit,
über Schuld und Sühne schreibt. Bald schon
kehrt Beck in seinen Beruf als Kommissar zurück,
eine seltsame Mordserie beschäftigt die Polizei.
Beck kennt die Toten, nur zu ihm sprechen die Indizien.
So kehrt der Krieg wieder in sein Leben ein. Wiewohl
er nie vergangen war, nie vergangen sein wird –
das ist das Entsetzen des Subjekts, das "Eisflüstern"
buchstäblich widerspiegelt. Ein unvergessliches
Buch.
Werner Schandor in schreibkraft
– das feuilletonmagazin Nr. 14/ 2007:
im osten viel neues
Interview mit Bettina Balàka über den
Kriegsheimkehrerkrimi „Eisflüstern“
Eines der beeindruckendsten Bücher des Jahres
2006 hat Bettina Balàka geschrieben. Eisflüstern
heißt es, und es ist aus mehreren Gründen
erstaunlich:
1.) Balàka arbeitet ein Thema auf, das in
der jüngeren österreichischen Literatur
ziemlich einmalig ist, nämlich die Zeit nach
dem Ersten Weltkrieg, als das große Kakanien
von den Siegermächten zum kleinen „Deutsch-Österreich“
zusammengestutzt wurde und sowohl ideologisch als
auch wirtschaftlich unter Schock stand.
2.) Die Autorin erzählt die Geschichte des
traumatisierten Kriegsheimkehrers Balthasar Beck
so authentisch, dass man meint, ihr Opa (oder Uropa)
hätte in seine Seele blicken lassen und ihr
seine Erlebnisse aus Krieg und russischer Gefangenschaft
gebeichtet.
3.) Bettina Balàka verknüpft die Heimkehrergeschichte
mit einem hard boiled Krimi, wie man ihn in Chicago
zur Zeit Al Capones ansiedeln würde, aber nicht
in Wien anno domini 1922.
Gründe genug, um die Autorin nach den Beweggründen
und der Arbeit an ihrem sprachlich und stilistisch
bravourösen Buch zu befragen.
Der Erste Weltkrieg ist in unserer Gesellschaft
thematisch kaum präsent. Wie bist du darauf
gekommen, einen Roman in dieser Zeit anzusiedeln?
Die Zeit nach 1918 hat mich deshalb so interessiert,
da sie mir im öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet
erschien. Als in Österreich sozialisierte Person
hatte ich nur Eckdaten aus dem Geschichtsunterricht
im Kopf: 1914 Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 1918
Vertrag von Saint Germain, 1. Republik. Dann ging
es weiter in den dreißiger Jahren, Dollfuß-Ära
usw. Als ich vor drei Jahren zu recherchieren anfing,
fand ich die Lücke auch in den Buchhandlungen:
Es gab viel über die Habsburger, dann wieder
sehr viel über das Dritte Reich. Der Erste
Weltkrieg wiederum war sehr gut dokumentiert über
die Westfront, die für Österreich relevantere
Ostfront war aber kaum präsent. Durch den 90.
Jahrestag des Attentats von Sarajewo 2004 erschien
dann mehr über den Krieg, durch die Seligsprechung
von Kaiser Karl 2004 wurden auch die letzten Züge
der Monarchie neu dokumentiert. Ich wusste ursprünglich
nicht einmal, dass die 1. Republik „Deutsch-Österreich“
hieß – da das Wort „deutsch“
durch die Nazizeit so negativ konnotiert ist, will
man das offenbar gar nicht mehr sagen. Geradezu
bildhaft war dann die Entdeckung der eingefrorenen
Soldatenleichen im Ortlermassiv 2004. Sie kamen
sozusagen leibhaftig aus dem Eis zurück in
unsere Gegenwart.
Woher stammen deine detaillierten Kenntnisse von
den Jahren 1914-23?
Ich musste mich komplett einarbeiten, da ich keine
außergewöhnlichen Vorkenntnisse hatte.
Im Grunde musste ich Mitte des 19. Jahrhunderts
anfangen, um die Biografien der Personen zu entwickeln
und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs zu verstehen.
Im Wesentlichen habe ich natürlich alles gelesen,
dessen ich habhaft werden konnte, und viel Zeit
in Museen und an historischen Schauplätzen
verbracht. Um möglichst viele visuelle Eindrücke
zu bekommen, habe ich auch viel mit alten Fotografien
gearbeitet. Beim Lesen habe ich nicht nur wissenschaftliche
Werke verwendet, zum Beispiel militärhistorische
Dissertationen, sondern auch auf Flohmärkten
und in Antiquariaten nach Büchern aus der Zeit
gesucht, die schon längst nicht mehr aufgelegt
werden. Ich habe versucht, mit dem Material möglichst
sorgsam umzugehen, da etwa Kriegserinnerungen von
Offizieren natürlich subjektiv gefärbt
sein konnten in Hinblick auf die Beschreibung des
Feindes, oder gar in propagandistischer Absicht
zur Vorbereitung des nächsten Krieges publiziert
wurden. Das heißt, ich habe sehr analytisch
gelesen und autobiografische oder belletristische
Werke immer mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen
abgeglichen. Im Detail war der Aufwand enorm: Allein
herauszufinden, wie viel im September 1922 ein Laib
Brot kostete, nahm Wochen in Anspruch, denn aufgrund
der gewaltigen Inflation änderten sich die
Preise ja ständig.
Wie kann man sich so gut in aufkeimendes Nazidenken
eindenken? Die Figur des Polizeiinspektors Ritschl,
des Antagonisten zur Hauptfigur Balthasar Beck,
ist als prototypischer Vertreter des damals entstandenen
Nationalsozialismus angelegt.
Die Entwicklung des „Nazidenkens“ zu
erforschen, war für mich von zentralem Interesse.
Das Buch endet nicht zufällig wenige Monate
vor dem (noch erfolglosen) Hitler-Putsch in München.
Ich halte die These, dass es sich beim Ersten und
Zweiten Weltkrieg im Grunde um einen „Dreißigjährigen
Krieg“ handelte, für gerechtfertigt.
Freudianisch gesprochen: Der Zweite Weltkrieg wurde
im Wiederholungszwang geführt. Die allermeisten
der großen und kleinen Nazis hatten im Ersten
Weltkrieg gekämpft, ihre Illusionen verloren
und verzweifelt nach neuen gesucht.
Im Grunde ging ich wie ein Profiler vor: Um einen
Verbrecher zu verstehen und dinghaft zu machen,
muss ich mich möglichst präzise in sein
Denken einfühlen. Die Sprache spielte meines
Erachtens eine ganz wesentliche Rolle; es war schon
vor dem Ersten Weltkrieg im Journalismus ganz normal,
dass mit unglaublich pathetischen, unsachlichen,
bombastisch-gefühlsbetonten Phrasen argumentiert
wurde.
Den Nazismus als Massenphänomen kann man nicht
verstehen, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen
doch Gut und Böse voneinander unterscheiden
hätten können – abgesehen von der
stets existenten Zahl Verbrecher, die sowieso das
Böse wollen. Viele aber waren überzeugt,
sich dem Guten angeschlossen zu haben, da es ihnen
doch mit so edlen Worten und Affekten verkauft wurde:
das reine Blut, die Volksgesundheit, der Opfermut,
des Volkes Schicksalsgemeinschaft – all das
war mit erhebenden Emotionen verbunden. Wozu der
Rausch der Masse fähig ist, sehen wir heute
noch bei jedem Fußballmatch: Man kann sich
in die absurdeste Nationalbegeisterung einklinken,
wenn es rundherum alle anderen tun.
Während in deinen früheren Büchern
die Tradition der österreichischen Literatur
stark spürbar ist, liest sich „Eisflüstern“
wie ein angelsächsischer Roman im besten Sinn.
Hat sich deine Schreibhaltung generell geändert?
Die österreichische und die anglosächsische
Literatur waren für mich gleichermaßen
prägend, die österreichische bis zur Matura,
die anglosächsische danach aufgrund meines
Übersetzerstudiums und meiner Zeit in den USA
und in England. Die traditionelle Unterscheidung,
nämlich österreichisch = sprachbetont,
anglosächsisch = narrativ, sehe ich nicht ganz
so. Ich finde auch die Kunst des Narrativen in Franz
Werfel oder Joseph Roth und die des Sprachbetonten
in Sylvia Plath oder Alan Ginsbergh. Wie viele meiner
Kollegen war ich irgendwann sehr genervt von der
medial ständig wiederholten Behauptung, deutschsprachige
Autoren, insbesondere deutschsprachige weibliche
Autoren könnten nicht erzählen, und ich
bin bei diesem Buch angetreten, das Gegenteil zu
beweisen.
Fiel es dir schwer, schreibend in die Männerrolle
zu schlüpfen?
Wie weit mir das gelungen ist, muss natürlich
die p.t. männliche Leserschaft beurteilen.
In den 80er-Jahren gab es sehr viel, zum Teil berechtigte
Kritik an der beträchtlichen Zahl literarischer
Frauenfiguren aus männ¬licher Feder, die
das Wissen um einen authentischen weiblichen Blick
vollkommen verstellte. Der Umkehrschluss war natürlich
heikel: Wenn Männer nur mehr über Männer
schreiben sollten, dann durften Frauen folglich
nur mehr Protagonistinnen beisteuern. Auf die Spitze
getrieben hieße das, ein dreißigjähriger
Wiener dürfte nur mehr über dreißigjährige
Wiener schreiben, eine achtzigjährige brasilianische
Ärztin nur mehr über achtzigjährige
brasilianische Ärztinnen etc., also jeder nur
über sich selbst.
Im Grunde muss sich natürlich jeder Autor auch
in eine fünf Stunden alte Maikäferlarve
einfühlen können, wenn es notwendig ist.
Schwierig war es auf jeden Fall, sich in einen Menschen
aus einer völlig anderen Zeit einzufühlen
und ihn nicht zu sehr zu idealisieren.
Die Tatsache z.B., dass Beck und seine Frau Marianne
ihre Tochter nicht schlagen, ist durchaus aus revolutionär
zu bezeichnen – damals galt Schlagen als absolut
notwendiger Erziehungsbestandteil. Dabei bin ich
von der Hoffnung ausgegangen, dass es in jeder Zeit
Menschen gibt, die den Wahnsinn des sie umgebenden
Regelwerks durchschauen. Es hat mich aber große
Mühe gekostet, Beck zwangsläufig töten
zu lassen, selbst eigene Kameraden. Ich habe mich
bei den Kriegserinnerungen sehr an einem Werk von
Jonathan Shay orientiert, Achilles in Vietnam, das
analysiert, dass das Kriegstrauma vor allem bei
jenen Soldaten sehr groß ist, die sich zu
absoluten Bestialitäten hinreißen haben
lassen, zum Vergewaltigen und Töten von Frauen
und Kindern zum Beispiel. Davor habe ich Beck also
zurückschrecken lassen, da ich wollte, dass
er doch halbwegs heil wieder zurückkommt –
um dann erst von der Vergangenheit eingeholt zu
werden. Im Grunde kann ich natürlich viele
ethische Fragen an mir selbst abhandeln: Mit 18
war ich mir sicher, dass ich mich eher töten
lassen würde, als jemanden anderen zu töten.
Heute, da ich ein Kind habe, bin ich mir nicht sicher,
ob ich mich nicht jeglicher Diktatur unterwerfen
würde, um das Leben meines Kindes zu retten.
Anton Thuswaldner in den Salzburger
Nachrichten, 17. Februar 2007:
Mit Bettina Balàka ist nicht zu spaßen.
Früher schrieb sie Literatur, die aus dem Geist
der sprachkritischen Tradition kam und das Feingewicht
der Wörter abwog. Jetzt hat sie sich zu einer
handfesten Erzählerin gewandelt, die aus dem
Staunen nicht herauskommt, was sich in den frühen
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Österreich
abgespielt hat. Sie verbindet Recherche in den Archiven
der Zeitgeschichte mit der Lust, eine Spannungsgeschichte
zu erfinden, um das Klima einer untergegangenen
Epoche im Treibhaus noch einmal erstehen zu lassen.
Ein Heimkehrer, der aus den Dramen, die der Erste
Weltkrieg in der Gesellschaft angerichtet hat, nicht
mehr herausfindet, kommt zurück nach Wien und
trifft veränderte Verhältnisse vor. Eine
neue Zeit, in der der Antisemitismus auf seine große
Chance lauert, kündigt sich an, und die Monarchie,
aus dem Gedächtnis noch nicht entschwunden,
wirkt nach in den Seelen der Menschen. In dieser
Zeit des Umbruchs erregen Mordfälle Aufsehen.
Es sieht so aus, als ob die Vergangenheit nicht
abgestorben wäre, sondern unbedingt in die
Gegenwart ausstrahlen möchte.
Marie-Claire Jur in der Engadiner Post, 15. März
2007:
90.000 neue Bücher kommen alljährlich
im deutschen Sprachraum heraus. Über diese
Flut von Neuerscheinungen jeweils einen Überblick
zu gewinnen und die Spreu vom Weizen zu trennen,
ist selbst für professionelle Leser wie Buchhändler,
Bibliothekare und Literaturkritiker ein Ding der
schieren Unmöglichkeit. Desto mehr schätzen
Büchernarren Orientierungshilfen wie sie Literatur-Talkshows
in den Medien anbieten.
Aufschluss über Trends im aktuellen Büchermarkt
und persönliche Lese-Tipps zum derzeitigen
Buchfrühling gabs vorgestern auch in St. Moritz
im Hotel Laudinella. In der hoteleigenen Bibliothek
hatten sich ein paar dutzend Zuhörer eingefunden,
Hotelgäste und Einheimische, die von Berufs
wegen viel mit Büchern zu tun haben. Sie alle
waren neugierig auf die Lektüre-Empfehlungen
von Monika Schärer und Urs Heinz Aerni. Sie
eine begnadete Fernsehmoderatorin von SF-Kultur-
und Reisesendungen wie «neXt» und «einfachluxuriös»),
er der Präsident der Vereinigung der unabhängigen
Kleinbuchhandlungen Schweiz und des Literarischen
Clubs Zürich. (...)
Unbedingt «antun» sollten sich Leseratten
mit viel Leselust gemäss den beiden «Laudinella-Literatur-Päpsten»
noch weitere Werke wie beispielsweise «Der
schwarze Schirm» (Hanna Johansen), «Melnitz»
(Charles Lewinsky), «Abspann» (Steve
Tesich), «Eisflüstern» (Bettina
Balàka), «Bibliomania» (Steven
Gilbar, Christian Detoux) oder die gesammelte Prosa
von Loriot.
heute. Das Neueste am
Abend, 19. März 2007:
Wieder ins Leben finden
Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg. Balthasar Beck
kommt nach seiner langjährigen Gefangenschaft
als Soldat an seinen Wohnort zurück. Was er
in der Zeit seiner Gefangenschaft sehen und erleben
musste, hat sein Innerstes erschüttert: Gemetzel,
Greuel, die Bestie Mensch. Nun will der ehemalige
Kriminalkommissar – bei Frau und Kind –
abermals in seinem bürgerlichen Leben Fuss
fassen. Nicht lange, und er muss einen Fall mit
mehreren Ermordeten aufklären. Der Mordfall
hängt gar mit seiner Kriegsgefangenschaft zusammen.
Autorin Balàka gelingt es aufs sorgfältigste,
in ihrem Roman eine Atmosphäre zu schaffen,
den Leser in eine für ihn fremde, weil längst
vergangene Zeit zu entführen, schildert mit
fast ironischem Unterton die tragischen und grässlichen
Ereignisse des Krieges. Eine Frage bleibt: Warum
schreibt eine junge, 40-jährige Autorin ausgerechnet
über eine Epoche, die nicht nur längst
vergangen, sondern auch vergessen ist? Vermutung:
Weil sie es kann.
Werner Schandor in schreibkraft.
Das Feuilletonmagazin Nr. 14, Frühjahr 2007:
http://schreibkraft.adm.at/ausgaben/14-patient-spezial/im-osten-viel-neues
Dieter Braeg im
Stadtmagazin Krefeld und Mönchengladbach, Mai
2007:
http://www.stadtmagazin.de/literatur/Spaete-Heimkehr/3261.html
Kleine Zeitung, 17. Februar 2007:
AUFGEBLÄTTERT
Gleich mehrere erfreuliche Nachrichten
für Bettin Balàka, der mit "Eisflüstern"
(Droschl) einer der besten Romane des vergangenen
Jahres zu verdanken ist. Sie erhält das mit
monatlich 1500 Euro dotierte Canetti-Stipendium,
über eine Übersetzung des Romans ins Französische
wird verhandelt, über eine eventuelle Verfilmung
intensiv nachgedacht.