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Eisflüstern

Ditta Rudle in der Buchkultur 107 B, Österreich Spezial, Herbst 2006:
Schreiben mit forensischer Distanz
Bettina Balàka über ihren neuen Roman, die unendlichen Folgen des Krieges und das Loch in der Zeitgeschichte.

Am Tatort liegt nicht eigentlich eine Leiche. „Beinahe ein Kunstwerk“, denkt die Polizeiärztin als sie das sauber aufgelegte Skelett im Raum für die Koloniakübeln („Coloniarium“) betrachtet. Irritierend ist nur, dass dem seit mindestens 30 Jahren Toten ein Oberschenkelknochen fehlt. „Ein Bubenstreich“ vermuten die Polizisten und ahnen nicht, dass das kunstvolle Arrangement nur die Ouvertüre für eine Serie von bestialischen Morden, geschickt inszeniert und mit rätselhaften Hinweisen versehen, ist. Doch nicht geringste Spur eines Täters. Der muss in einem dramatischen Showdown die Aufklärung selbst liefern.
„ Eisflüstern“, der jüngste Roman von Bettina Balàka. liest sich zwar so spannend wie einer der bluttriefenden Schmöker Henning Mankells, doch ist der Krimilook nur Tarnung für eine andere aufwühlende Geschichte, der vom Krieg und seinen schrecklichen Folgen. Die Autorin hat es sich nicht leicht gemacht und sich auf die üppigen Gedenk- und Gedankenarchive des 2. Weltkriegs verlassen, sondern sich noch weiter zurückversetzt in der Chronologie des Grauens, in die Zeit nach dem ersten großen Krieg im vergangenen Jahrhundert. Die Hauptperson, der aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrte Polizist Balthasar Beck, ist noch im 19. Jahrhundert geboren – keine Person, die nach einem noch lebenden Vorbild gebildet sein kann. Und dennoch lebt dieser Beck, der tagelang durch Wien irrt, weil er sich nicht nach Hause traut, sich fürchtet, dass ein anderer die Tür öffnet und Marianne, seine Frau, ihn nicht mehr brauchen kann. Die Autorin ist mehr als 20 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, kann also weder an diesen, noch an den vorangegangenen Erinnerungen gespeichert haben.
Wieso interessiert sich eine Frau des 21. Jahrhunderts für eine so lang zurückliegende Zeit?
Sie wollte immer schon historische Romane schreiben, sagt Bettina Balàka und erinnert sich an die Faszination, die sie bei der Lektüre von Marion Zimmer Bradleys Keltenroman „Die Nebel von Avalon“ verspürt hat. „Ich habe gesehen, wie viel die Autorin recherchiert hat, das hat mich begeistert, aber ich wollte keine Fantasystory schreiben. Ich wollte eine Epoche erforschen, von der viel zu wenig bekannt ist. Man hat das Gefühl, man kennt sich aus in der Geschichte, doch was war vor dem 3. Reich? Zwischen dem Ende der Monarchie und dem Anschluss ist ein großes Loch. Dieser Bruch nach dem Zerfall, der war doch gewaltig.“ Außerdem spürt auch sie selbst noch die Folgen des Krieges: „Mein Urgroßvater war im 1. Weltkrieg Soldat, mein Großvater im 2. und meine Eltern sind im Krieg geboren. Ich kenne Leute, die noch immer kein Brot wegwerfen können, der Krieg wirkt ewig fort. Genau betrachtet war das vergangene Jahrhundert eine einzige Abfolge von Katastrophen.“
Ganze fünf Jahre hat Balàka an dem mehr als 300 Seiten starken Opus gearbeitet; zwei vergingen mit der Recherche, drei mit dem Schreiben (direkt in den Computer, der Effizienz wegen). „Anfangs war es schwierig, über diese Zeit gibt es wenig Aufzeichnungen, aber durch die Jahrestage, etwa 90 Jahre Attentat von Sarajewo, ist dann doch einiges publiziert worden. Ich glaube, ich habe mit diesem Roman etwas aufgegriffen, was in der Luft lag.“ Balàkas Genauigkeit führte sie auch an jeden der zahlreichen und mitunter reichlich abstrusen Schauplätze: In eine alte Eisfabrik, zu den Resten der Schiffsmühle in Wildungsmauer, auf den Friedhof der Namenlosen und in die Pathologie so wie so: „Da hat sich der Pathologe entschuldigt, dass grad keine Leiche da war. Ich aber war froh.“ Beim Schreiben lassen sie die grausam zugerichteten Leichen nicht erbleichen, lässt sie sich vom Elend im sibirischen Gefangenenlager nicht erschüttern: „Ich halte da wie ein Arzt forensische Distanz. Bei den Recherchen habe ich gelitten, aber beim Schreiben kann ich draußen bleiben.“
Aber weshalb ein so typisches Männerthema, Kriegskameraden und Kameradenschweine?
„ Ich wollte weg von diesen Frauenthemen, ich hatte so ein Image bekommen als feministische Autorin, das gefiel mir gar nicht. Doch was mich an dem Thema wirklich interessiert sind die Unterdrückten, die Irregeführten. ‚Allgemeine Wehrpflicht’ etwa, das ist doch ein Skandal. Meine drei Brüder haben mir wirklich leidgetan, daher bin ich auch gegen ein verpflichtendes Sozialjahr für Frauen. Das ist Zwangsarbeit. Und so ein männliches Thema ist der Krieg auch nicht, schließlich leiden die Frauen genauso und ihr Leben verändert sich. Manchmal allerdings sogar mit positivem Vorzeichen, ohne Männer sind die Frauen selbstständiger und selbstbewusster geworden. Marianne, Becks Frau, hat sehr wohl gewusst ihre Freiheit zu genießen, auch wenn sie auf die Rückkehr ihres Mannes gehofft hat und keinen anderen heiraten wollte. Traumatisiert sind sie alle, Männer wie Frauen. Das interessiert mich, wie leben Menschen, die Fürchterliches durchgemacht haben, weiter?“
Die begeisterten Urteile von Kritikerinnen und Kritikern, die ihr „Sprachbewusstsein und Poesie“, „exakte Formulierung und überzeugende Bilder“ sowie einen „sezierenden Blick“ bescheinigen, werden auch durch diesen neuen Roman bestätigt. Wobei die Kunst der Bettina Balàka auch im Erzählen auf mehreren Ebenen besteht. „Eisflüstern“ kann als Kriminal- ebenso wie als historischer Roman gelesen werden, als Psychogramm eines vom Krieg korrumpierten Heimkehrers, wie auch als Sittenbild aus dem Nachkriegswien von 1922 und als Brechtsche Warnung: „Lasst euch nicht verführen!“ Von ihren Figuren lässt sich Balàka jedenfalls nicht verführen und vereinnahmen. Beschreibt und analysiert, ohne sich in die Geschichten hineinziehen zu lassen. Vielleicht wäre sie gern Chirurgien geworden?
„ Ich wusste schon in der Volksschule, dass ich einmal das Schreiben zum Beruf machen würde. Ganz früh habe ich Gedichte geschrieben, meine Mutter war sehr genau und hat sie mir ausgebessert, mir Rhythmus und Metrik beigebracht. Sie war ganz erstaunt, als ihr die Lehrerin als Besonderheit mitgeteilt hat, dass die Tochter Gedichte schreibt – für meine Mutter war das nichts Besonderes.“ Nach Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und einigen Preisen, ist 1994 das erste Buch, die Gedichtsammlung „Die dunkelste Frucht“, als Band 60 in der Reihe „Lyrik aus Österreich“ erschienen. Seit dem darf Bettina Balàka stetig über die von der Kritik ausgebreiteten preisverzierten Teppiche schreiten. Nur die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises war geteilter Meinung. „Ich war vorbereitet, man weiß ja, dass diese Lesungen etwas Unseriöses haben. Es gab auch Verteidiger meines Textes. Aber Plus und Minus ergibt eben Null.“ Die Erinnerung an den Auftritt in Klagenfurt vor zwei Jahren sei nicht wirklich schmerzhaft. Die große Auflage, der sämtliche Hitparaden stürmende Seller, war ihr noch nicht beschert. Deshalb muss das Haushaltsbudget weiterhin durch Übersetzungen („Keine literarischen, da entspricht das Honorar keineswegs dem Aufwand“) und Buchrezensionen aufgebessert werden. Schließlich gilt es eine Tochter, in diesem Herbst als Taferlklasslerin unterwegs, zu ernähren. Geht das überhaupt zu Hause zu arbeiten mit einem Kind?
„ Ich war von Anfang an Alleinerzieherin und hab zwischen Schmutzwäsche und Spielzeug gearbeitet. Seit sie in die Schule geht, ist es leichter. Ich habe gelernt, beim Schreiben die Türen innerlich zuzumachen. Während Pia in der Schule ist, wird nicht geputzt oder gebügelt. Schlimm es ist nur, wenn das Kind krank ist. Zum Glück ist das selten. Oder Bekannte und Verwandte meinen, ich sei ohnehin zu Hause, da könnten sie doch auf einen Tratsch vorbei kommen. Da bin ich hart. “
Als berufstätige Mutter will und kann sich Bettina Balàka auch nach der Monsterarbeit keine schöpferischen Pausen leisten. Wenn sie nicht an einem ihrer Werke arbeitet, dann an dem anderer, als Rezensentin.
Ist das nicht schwierig quasi Konkurrenten und Konkurrentin zu bewerten.
Auch da kann Bettina Balàka das Objektiv vor Augen halten. „Bücher von KollegInnen, die in Jurys sitzen, rezensiere ich nicht. Das kann nur falsch ausgelegt werden. Aber sonst lasse ich mich nicht von persönlichen Sympathien leiten und versuche ganz ehrlich zu sein.“
Entwaffnend ehrlich antwortet sie auch, auf die Frage nach der Herkunft des so schön reimenden Namens. „Den hab ich mir ausgedacht. Dann hab ich noch den Akzent draufgesetzt.“ Inzwischen ist die Alliteration keineswegs nur vorgeschobener Nom de Plume, sondern längst, nach aufwendiger und kostspieliger Änderung sämtlicher Dokumente, unverwechselbare Identität. In der ihr eigenen Konsequenz lässt sie auch die Tochter den Kunstnamen tragen. „Da habe ich eine neue Dynastie gegründet! Mein Vater war gar nicht glücklich.“ Ironische Funken blitzen nicht nur durch die traurige Geschichte vom Heimkehrer Balthasar.


Georg Walz in literaturkritik.de Nr. 11, November 2006:
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10129&ausgabe=200611>%20&ausgabe=200611

Nikolaus Scholz in:
http://oe1.orf.at/highlights/66135.html

Werner Jung in Freitag Nr. 40, 6. Oktober 2006:
http://www.freitag.de/2006/40/06401602.php#top

Werner Schandor im Falter Nr. 40/ 2006:
http://www.falter.at/rezensionen/detail.php?id=3397


Erwin Riess in der Presse (Spectrum), 30.9.2006:
Das Skelett im Hinterhof
Bettina Balàka legt mit "Eisflüstern" ein erstaunliches Buch vor: ein Epos über das verarmte Wien der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen Kriminalfall, dessen Auflösung bis zum Schluss für Spannung sorgt.
Wien, im Herbst 1922. Nach sie ben Jahren Abwesenheit kehrt der einstige Oberleutnant der k.u.k. Armee Balthasar Beck aus Russland zurück. Auf der Höhe von Mannswörth verlässt er ein Schleppschiff und schlägt sich nach Wien durch. Zerlumpt, erschöpft und nur 42 Kilogramm schwer meldet er sich bei der Heimkehrerstelle am Nordbahnhof.
Als Beck seine Frau Marianne 1915 verließ, wusste er zwar, dass sie schwanger war, darüber hinaus hatte er aber durch sieben Jahre hindurch keinerlei Informationen über seine Familie. Denn er war früh in russische Kriegsgefangenschaft geraten und sukzessive Richtung Osten verbracht worden: Von Westsibirien bis Wladiwostok und an die Grenze zur Mandschurei wurde er von einem Lager ins nächste verschleppt. Später kämpfte er für die Bolschewiken gegen die von General Koltschak geführte Gegenrevolution - traf dort auf frühere Kameraden - und hatte eine längere Affäre mit einer Bäuerin am Baikalsee. Währenddessen brachte Marianne in Wien ein Mädchen, Aimée, zur Welt und führte ihren Krieg gegen Hunger, Kälte und Hyperinflation in der zu einer Metropole des Elends herabgekommenen ehemaligen Reichshauptstadt. Sie nahm eine Büroarbeit an und schöpfte daraus ein starkes Selbstbewusstsein. Die neuen republikanischen Verhältnisse sahen die frühere Offiziersgattin rauchend und mit Bubikopf ihr Leben meistern; abends las Marianne für die "Rote Fahne", die Zeitung der jungen KPÖ, Korrektur. Die Wandlung von der behüteten Offiziersgattin zur politisch und beruflich aktiven Republikanerin konnte größer nicht sein.
Der Heimkehrer braucht lange, bis er die Kraft findet, seine Familie aufzusuchen. Mit einer Mischung aus Schock und Erleichterung nimmt Marianne den verschollen Geglaubten auf. Noch ist der Mann, der von den Erlebnissen in den Lagern, von Krieg und Bürgerkrieg schwer traumatisiert ist, nicht wirklich zu Hause angekommen. Schon in der ersten Nacht verlässt er die Schlafstatt neben seiner Frau und legt sich im Vorzimmer zum alten Hund auf den Boden. Als das Mädchen sich morgens über ihn beugt, antwortet er mit einem Reflex der Faust, der Aimée um ein Haar schwer verletzt. Das Töchterchen ist von der Wildheit und Fremdheit der Jammergestalt abgestoßen, lange Zeit gelingt es Beck nicht, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, was damit zu tun hat, dass Beck einen despotischen Vater hatte, der sein Kind mit Prügeln, Strafen und Vorwürfen überschüttete und der im ersten Jahr der Lagerexistenz dem Gefangenen Beck ausrichten ließ, er geniere sich dafür, einen Sohn zu haben, der die Frechheit und Feigheit besäße, sich vom Feind überrumpeln zu lassen.
Tagsüber treibt Beck sich im winterlichen Wien umher, auf der Suche nach Nahrung und in der Nähe seiner alten Arbeitsstätte am Kriminalkommissariat. Sein früherer Kollege Moldawa vermag ihm zwar keine Beamtenposition in Aussicht zu stellen, die Mitarbeit an einem ungewöhnlichen Kriminalfall verbessert Becks Chancen aber so nachhaltig, dass sein Wiedereintritt in die alte Berufslaufbahn als Polizeioffizier möglich wird. Lange Zeit hat es den Anschein, als würde Beck nicht nur selbst in diesen Kriminalfall verstrickt sein, einige Tage lang steht er sogar selbst unter Tatverdacht. Ein Skelett war in jenem Haus aufgetaucht, in dem Beck wohnte, kurz darauf wurde auf dem Treibrad einer Schiffsmühle eine Leiche gefunden, zerfetzt von einer russischen Nagaika-Peitsche und um neun Finger amputiert. Schließlich taucht noch die Leiche eines weiteren Kriegsheimkehrers und ehemaligen kaiserlichen Offiziers in einem Eisblock auf. Beck gelingt es, den Zusammenhang zwischen den Morden so weit zu rekonstruieren, dass klar wird: Sie gehörten einem Offizierskomitee eines Lagers in Sibirien an. Das Komitee bestand aber noch aus einem vierten Offizier: Balthasar Beck. Der Heimkehrer kann sich also ausrechnen, wann er an die Reihe kommen wird, hat aber keine Ahnung, weshalb und durch wen er gemeuchelt werden soll.
Die Lösung des Falles soll hier nicht verraten werden, angemerkt sei nur, dass ein aufgeweckter Wiener Mittelschüler namens Lintschinger darin eine zentrale Rolle spielt. Das Komitee war nämlich dazu verpflichtet, Fluchtpläne dem Kommandanten zu melden, andernfalls zehn Prozent der Lager-insassen getötet würden. Als eines Tages eine Gruppe von Gefangenen einen Fluchtplan ausheckte, wurde das Vorhaben verraten. Das Komitee meldete dies der Obrigkeit. Daraufhin wurden die zehn Fluchtbereiten vor versammelter Lagerbelegschaft gepeitscht und im Schnee liegen gelassen. Bettina Balàka legt mit diesem umfangreichen Roman ein erstaunliches Werk vor. Ein Epos über das devastierte Wien der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen Kriminalfall, dessen Auflösung bis zum letzten Moment für Spannung sorgt - wenn auch der Showdown ein wenig konstruiert wirkt. An dem penibel gearbeiteten Text faszinieren besonders die souveräne Sprachbe-herrschung in der Sphäre des Krieges und dessen Widerspiegelung in den Verwerfungen von Becks Psyche. Die Anordnung in kurzen Kapiteln, das Arbeiten mit Rückblenden und psychischen Übertragungen sind durchwegs gelungen.
Verstörend wirkt indes die von den Personen ausgehende Kälte. Beschrieben wird ein liebendes Paar, eine Familie, die trotz aller Anfechtungen durch den Krieg gekommen ist und deren Mitglieder einander wieder gefunden hat. Kaum aber wird man der Emotionen teilhaftig, die diese Menschen ja unbeschadet aller durchlittenen Krisen haben müssen. Streckenweise bewegen sich Beck und seine Frau wie ferngesteuert durch eine romanhafte Versuchsanordnung, in der das Entsetzliche des Kriegs und des Lagerlebens, das Ertragen von Hunger, Kälte und Einsamkeit, zur Prostitution gezwungenen Kindern, von Rattenplage und tyrannischen Kommandanten ausgemalt werden.
Die Autorin ruft diesen Eindruck der Kälte bewusst hervor - nicht umsonst trägt das Buch ja den Titel "Eisflüstern" -, wohl um deutlich zu machen, dass Verhältnisse Menschen niederdrücken und das Menschliche in den Personen ersticken. Dieserart entfaltet Balàka ein kunstvolles, oft dichtes, aber auch seltsam distanziertes Gemälde vom Krieg und den von ihm zerstörten Seelenlandschaften. So ist der beeindruckende Roman auch als Studie über die vom Krieg traumatisierte Psyche eines überlebenden Paares zu lesen


Alexander Kluy im Rheinischen Merkur Nr. 40, 5.10.2006:
KOMMISSARE AUF ABWEGEN
Wien, 1922. Balthasar Beck, einst Kriminalinspektor, kehrt nach Krieg und sieben Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft in seine Heimatstadt zurück. Nach grauenhaften Grenzerfahrungen ist er ein anderer, von der Donaumonarchie sind nur noch Schemen vorhanden, durchsetzt von Not, Elend, Hunger und neuen politischen Ressentiments. Frau und Kind sind ihm halbfremd geworden. Und dann wird er noch bedrängt von einer rätselhaften Mordserie. Die 40-jährige, in Wien lebende Autorin findet eindrucksvolle Bilder in einer kraftvollen und abwechslungsreichen Sprache.

Ö1 Magazin, September 2006:
Mit diesem Roman führt eine der talentiertesten jungen österreichischen Autorinnen ihre Leser zurück ins Wien der frühen 1920er Jahre. Die Monarchie ist längst abgeschafft, lebt aber in den Köpfen noch weiter, ein sich langsam radikalisierender Antisemitismus wird spürbar. In dieses historisch genau recherchierte Gesellschaftspanorama stellt Bettina Balàka den Kriegsheimkehrer Balthasar Beck. Mühsam versucht er sich in seinem früheren Leben und an seinem alten Arbeitsplatz, bei der Kriminalpolizei, wieder zurechtzufinden. Grauenvolle Erinnerungen an die Gräuel des Krieges vermischen sich mit aktuellen, rätselhaften Mordfällen...
Buch der Woche 25.9.-1.10.


Katharina Narbutovic in WDR3: "Gutenbergs Welt", 22. Oktober 2006:
Wien. 1922. Eine ganz gewöhnliche Bäckerei. Doch als Balthasar Beck, der gerade erst aus dem Krieg heimgekehrt ist, den Laden betritt, da scheint ihm, er sei in einer orientalischen Pfefferkammer gelandet: so betörend duften die frischgebackenen Milchbrote, Rundsemmeln, Apfel- und Marillenkuchen mit dem karamelisierten Staubzucker obenauf, dass ihm ganz schwindelig wird. Ein Sog geht aus von den Wohlgerüchen wie von einer weichen Schneewehe in sibirischer Eiseskälte, auf die man sich betten möchte, um ein wenig auszuruhen – und auf immer einzuschlafen. Gäbe Balthasar Beck dem Sirenengesang der süßen Kuchenstücke nach, er würde in einen Fressrausch verfallen, wahllos alles in sich hineinschlingen, um es kurz darauf wieder zu erbrechen, im Erbrochenen nach Fruchtstückchen suchen, um diese sich erneut in den Mund zu schieben, und in einer Endlosschleife landen aus Fressrausch und Erbrechen und Wahn. Nicht leicht ist es, nach einem Leben in der Finsternis in den normalen Alltag zurückzufinden. Nach acht Jahren Krieg und Gefangenschaft verträgt ein auf ein Nichts zusammengeschrumpfter Magen nur mehr kleinste Brocken trockenen Brots.
34 Jahre ist Balthasar Beck alt, als er im September 1922 aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt. Da ist der Krieg schon seit vier Jahren vorbei. Das Leben pulsiert, die Kaffeehäuser sind voller Menschen, und alle scheinen sich an die neue Zeit, die Republik und ein Österreich ohne Kaiser gewöhnt zu haben. In dieser Umgebung wirkt der abgemagerte Beck mit seiner zerschlissenen k.u.k.-Uniform wie eine Schießbudenfigur, wie ein Wiedergänger, wie "geschichtsloser Knochenmüll". Und auch für Beck ist es, als sei er auf einem anderen Stern gelandet. Er hatte Wien im Hochsommer 1914 verlassen, als Offiziere in der Gesellschaft noch etwas galten und alle glaubten, Krieg sei so etwas wie ein Tennismatch, "nach dem man einander die Hand schüttelte und Erfrischungen gereicht werden". Und wie ganz Österreich hatte auch er in seiner Vorstellung keinen Plan vorrätig gehabt "für etwas, das außerhalb" der "Kaiserwelt lag, an der" sich alle "festgehalten" hatten. Ein einsamer Fremder in einer zerborstenen Welt, stromert Balthasar Beck über Tage durch Wien, nächtigt im Türkenschanzpark und zögert, nach Hause zurückzukehren – wer weiß, ob seine Frau Marianne nach Jahren ohne jedes Lebenszeichen sich nicht schon längst einen anderen gesucht hat.
Doch auch dann, bereits zurückgekehrt zu Frau und sechsjähriger Tochter, wird Balthasar Beck die Einsamkeit nicht los: die Einsamkeit der Erinnerung an die Hölle von Krieg und Jahren der Gefangenschaft in einem Lager unweit der Grenze zur Mandschurei, eine Hölle, in der Menschen einander nicht nur getötet, sondern auch in sadistischem Blutrausch einander gequält und in der Seele zerstört haben – wie den zwölfjährigen Jungen, der wegen eines winzigen gestohlenen Messers von kultivierten, gebildeten Männern eine endlose Nacht lang sodomiert wurde und der sich darauf einen rostigen Nagel in die Halsschlagader trieb. Und die Einsamkeit der inneren Eiswelt, in die Balthasar Beck sich eingekapselt hat, um die vielen Höllenkreise als Mensch zu überleben und sich selbst nicht über all dem Wahn und Grauen abhanden zu kommen. Wie Bettina Balàka es als Nachgeborener gelingt, die Erfahrungs- und Erkenntnisessenz der eisigen Jahre des Ersten Weltkriegs zu erfassen und in ein "Eisflüstern" zu gießen, das ihren Roman als Grundton durchzieht, das ist beeindruckend.

ORF Teletext S. 633:
Wien 1922. Balthasar Beck kehrt entkräftet, aber unverletzt ins heimatliche Wien zurück. Er wird immer wieder
von grauenvollen Erinnerungen an die Gefangenschaft und die Gräuel des Krieges heimgesucht und hat Mühe, in sein altes Leben zurückzufinden. An seinem Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei wird er mit Mordfällen kon-
frontiert, die mit den Kriegsgeschehnisssen in Sibirien zusammenhängen.
Bettina Balàka hat durch fundierte Detailrecherchen einen spannungsgeladenen Roman über die Jahre nach dem ersten Weltkrieg geschrieben.


Caro Wiesauer im Kurier, 30.9.2006:
„Eisflüstern“, das heißt Ausatmen bei minus 45 Grad: Eine knisternde Wolke bildet sich dabei.
Beck hat auch sein Inneres auf Eis gelegt. Das Foto seiner Frau begräbt er unter Leichen. Nur nicht an der Sehnsucht hängen, und verenden wie so viele in der russischen Gefangenschaft.
Ausgerechnet bei Kilometer 1918 wird Beck mit ein paar Kollegen – einer von ihnen tot – vor Wien in einem Ruderboot abgesetzt. Der 1. Weltkrieg ist längst zu Ende. Beck braucht Ewigkeiten, um in sein früheres Leben, seinen Beruf als Polizist und in die antisemitisch werdende Gesellschaft zurückzukehren. Das Grauen, das er erlebt hat, tropft ihm aus jeder Pore. Perverse Späße, die sich der Tod für Soldaten ausdachte wie Varieté-Witze, rauben Beck den Schlaf. Die Gräuel holen ihn ein. Mehr als beachtlich ist die Hingabe und Genauigkeit, mit der Bettina Balàka das Wien der 20er-Jahre porträtiert. Wie intensiv sie aber in persönliche Schicksale geschlüpft sein muss, um dieses Buch so eindringlich schreiben zu können, ist schlichtweg sagenhaft.


Markus Bundi in der Wiener Zeitung, 19.8.2006:
http://www.wienerzeitung.at/DesktopDefault.aspx?TabID=4103&Alias=wzo&cob=244400

Barbara Belic im ORF Steiermark, 20.8.2006:
http://steiermark.orf.at/magazin/immergutdrauf/kultur/stories/130280/

Karin Fleischanderl für die o-töne, Museumsquartier Wien 2006:
Müsste ich einen der Fragebogen beantworten, die regelmäßig in den Sonntagsbeilagen der Tageszeitungen erscheinen, so würde ich auf die Frage, was bedeutet Glück für Sie, antworten: Ein Buch zu finden, das mich derart fesselt, dass ich es gar nicht erwarten kann, zu ihm zurückzukehren, einzutauchen in das Leben der beschriebenen Personen, teilzuhaben an ihrem Glück, an ihren Sorgen und Nöten, das Gefühl zu haben, an etwas teilzuhaben, das reicher und interessanter ist als mein eigenes alltägliches Leben.
Das hat natürlich etwas Eskapistisches, nicht umsonst ist das Lesen von Romanen lange Zeit verpönt gewesen als ein gefährlicher Genuss, der die Lesenden in Phantasiewelten entführe und unbrauchbar mache für die Anforderungen der alltäglichen Realität. Ritterromane sind es ja auch, die Emma Bovary in ihrer Lust am Lesen verschlingt, einer Lust, die zu einer krankhaften und krankmachenden Sucht wird und letzten Endes ihren Untergang besiegelt.
Freud hat das realitätsvergessene Aufgehen des Lesers in der Welt der Fiktion als milde Narkose beschrieben, und Tucholsky findet für das Glück beim Lesen folgende Worte: „Manchmal, o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, dass du in ihm versinkst – du bist gar nicht mehr da. Dein Körper verrichtet gleichmäßig seine innere Fabriksarbeit- du fühlst ihn nicht. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest.“

Doch andererseits, kann ich mich überhaupt noch trauen, mich zum Lesen von Romanen zu bekennen, nach dem Kahlschlag der Moderne und nachdem Adorno mir erklärt hat, dass mein Leseverhalten regrediert sei und ich als Romanleser hartnäckig immer wieder nach derselben Speise verlange, die man mir einmal vorgesetzt hat? Und welche Romane soll ich überhaupt noch lesen, nachdem die Postmoderne einen vorerst letzten Versuch unternommen hat, das Genre zu retten, indem sie erklärt hat, ein zeitgenössischer Roman habe ironisch mit den Augen zu blinzeln und Bildung für die Eliten und Lesegenuss für die breiten Massen als Teile eines längst zerbrochenen Ganzen zur Verfügung zu stellen und uns auf diese Weise eine Flut von kitschigen, klischeehaften Machwerken beschert hat, die das Zitat zur wahren Authentizität erklären?
Mit einem Wort, welche Romane sind trivial und welche sind es nicht?

Bettina Balaka erzählt in ihrem Roman „Eisflüstern“ die Geschichte eines Kriegsheimkehrers, der sich im September 1922 nach Jahren der Gefangenschaft in seiner Heimatstadt Wien zurechtzufinden versucht. Sie erzählt, wie er sich seiner Frau, die er seit sieben Jahren nicht mehr gesehen hat, und seiner Tochter, für die er ein völliger Fremder ist, annähert, und wie er in seinem ehemaligen Beruf als Polizist wieder Fuß zu fassen versucht. Die Geschichte ist eingebettet in einen Kriminalfall, der – mehr soll jedoch, wie es so schön heißt, nicht verraten werden – im direkten Zusammenhang mit seiner Vergangenheit im Gefangenenlager steht. Einen Großteil der Erzählung machen Erinnerungen aus, Erinnerungen, die das Unfassbare, was im Krieg und im Gefangenenlager geschehen ist, fassbar machen sollen, sowie Erinnerungen des Protagonisten an seine Kindheit als Sohn eines kaltherzigen und sadistischen Richters.

Das klingt nach einer spannenden und unterhaltsamen Geschichte, doch andererseits, wie viele Geschichten habe ich nicht schon zu lesen begonnen, die ebenfalls spannend und unterhaltsam zu sein versprachen, über Geishas und jüdische Großfamilien und römische Vorstadthuren, und doch wieder schnell aus der Hand gelegt, weil mir ihr Schicksal überhaupt nicht nahe ging, oder doch atemlos durchgelesen, mit einem schalen Gefühl hinterher wie nach exzessivem Mehlspeisengenuss: übervoll und gleichzeitig hungrig.

Bettina Balaka hingegen erzählt ihre Geschichte so, dass mir die Erfahrungen ihres Protagonisten greifbar nah rücken, sie hat - was mir als nicht geringe Kunst erscheint - eine Person aus Fleisch und Blut geschaffen, eine Person, von der man glaubt, es könnte sie wirklich gegeben haben. Und sie hat einen Ton gefunden, der – ohne gewollt altertümlich zu sein – in Anklängen ein wenig von einer versunkenen Welt auferstehen lässt, einer Welt, in der es so etwas wie Redouten, Dienstmädel und Sommerfrischen in Abbazia gegeben hat – lauter Dinge, die sich nun, in einer radikal veränderten Realität wie Fremdkörper ausmachen. Ein schmerzhafter Kontrast, der sich in Bettina Balakas Roman jedoch als äußerst produktiv erweist: Als würde eine liebliche Melodie über eine Erzählung gelegt, in der nur von den grauenhaftesten Dingen die Rede ist, als würde der Alptraum sich zu Walzerklängen ereignen.
Ich habe keine Ahnung, wie diese Welt wirklich beschaffen war, aber Bettina Balaka entwirft sie auf eine Weise, die mir plausibel erscheint, und klugerweise ohne sich ihr völlig anzuverwandeln, sondern so, dass die Distanz dessen, der sie ja ebenfalls nur aus Berichten und aus der Literatur kennen kann, stets gewahrt bleibt.
Sie entwirft eine Welt, die mich fasziniert, die mich fesselt, in die ich immer wieder gern zurückkehren möchte, um noch ein wenig teilzuhaben an dieser Atmosphäre, und noch ein wenig zu erfahren über den Alltag dieser Menschen, die in die Normalität zurückzukehren scheinen, obwohl ihnen – was wiederum nicht sie, sondern nur die Autorin und ihre Leser wissen können – in Bälde eine noch größere Katastrophe bevorsteht, die sich in Form nationalistischer und antisemitischer Töne bereits ankündigt.

Und so habe ich am Endes dieses Romans, der ja auch irgendwo ein Krimi sein möchte, nicht das zufriedene Gefühl, des Rätsels Lösung in Erfahrung gebracht zu haben, sondern vielmehr den Wunsch, hier möge eine neue Geschichte beginnen.

tvmedia Nr. 33, 12. – 18. August 2006:
Nach dem WK I: Der ehemalige Kriegsgefangene Beck hat genug damit zu tun, seine (psychischen) Wunden zu lecken, als er mit einer grauenvollen Mordserie konfrontiert wird. Stehen die Todesfälle im Zusammenhang mit seinen schrecklichen Erlebnissen in Sibirien? Spannung aus dem 20er-Jahre-Wien: Empfehlung!

Winfried Stanzick in sandammeer.at 09/2006:
http://www.sandammeer.at/rezensionen/balaka-eisfluestern.htm

Harald Klauhs in Die Furche Nr. 46/ 16. November 2006:
"Sie erkannte ihn sofort"
Bettina Balàkas Roman "Eisflüstern": engagierter Krimi über das Mörderische des Krieges

Bis nach Wladiwostok ist er gekommen, der k.u.k. Oberleutnant Balthasar Beck, 8000 Kilometer in acht Jahren, hin und zurück. Erst im Herbst 1922 bringt ihn ein Donauschlepper zurück bis Mannswörth. Grauenvolles hat er gesehen, Unfassbares erlebt, und unendlich viel gefroren. Als Offizier eines Kaiserreichs hat er 1914 Wien verlassen, war Kriegsgefangener, kämpfte in der Roten Armee, und am Anfang von Bettina Balàkas Roman Eisflüstern kehrt er zerlumpt in eine winzige Republik zurück. Damit nicht genug: Als er weg musste, hat er eine Frau zurückgelassen, die schwanger war. Hat sie auf ihn gewartet? Was wird das Kind zu dem ihm fremden Mann sagen? Solche Fragen sind es, die Beck durch den Kopf gehen, als er im Türkenschanzpark eine Parkbank "bezieht", weil er sich nicht nach Hause wagt. Zur gleichen Zeit wird im Hinterhof von Becks Wohnhaus ein Skelett gefunden, schön aufbereitet auf einem Stück grünen Filzes, nur ein Oberschenkelknochen fehlt.

Atmosphärisch dicht beginnt das Buch. Der Einstieg signalisiert zugleich, dass es sich dabei um eine Kombination aus einem historischen und einem Kriminalroman handelt. Ganz anders aber als in Dan Browns ebenso erfolgreichem wie spekulativem Thriller Sakrileg vermengt die 1966 in Salzburg geborene Autorin die Genres nicht, um die Leserschaft zu verdoppeln, sondern um das Mörderische des Krieges sinnfällig zu machen. Eisflüstern ist nicht nur ein spannender Krimi, nicht nur ein penibel recherchierter Roman über den dumpfen Nachhall der Donaumonarchie, sondern auch ein engagiertes Buch. In eindringlichen Bildern führt es vor Augen, wie die Todesmaschinerie des Krieges fortwirkt in die Friedenszeit.
Eines Tages steht Beck dann doch vor der Türe, hinter der er sich viele Jahre zuvor von seiner Frau Marianne verabschiedet hat – gespannt, wer öffnen wird. "Sie erkannte ihn sofort", heißt es lapidar. Dass er ihr in der Folge verschweigt, am Baikalsee eine Geliebte zurückgelassen zu haben, und sie ihm verschweigt, ihren Verehrer an seiner statt erwartet zu haben, hilft, die Ehe fortzusetzen. Für die Tochter jedoch bleibt Beck vorerst einmal "keiner von uns". Er ist jetzt aber entschlossen, nicht nur in seine Familie, sondern auch in seinen Beruf als Kriminalinspektor zurückzukehren. Dabei kommt ihm der Skelettfund in seinem Wohnhaus zu Hilfe. Und bald danach wird die nächste Leiche entdeckt.

In der Verschränkung der verschiedenen Ebenen des Romans zeigt sich die kompositorische Kunst der Autorin: Wie bei einer Symphonie schlägt sie mehrere Themen an und verknüpft Gegenwärtiges mit Vergangenem, Privates mit Beruflichem, Erlebtes mit Erinnertem bzw. Erdachtem zuletzt zu einem Ganzen. Diese Struktur bietet dem Leser nicht nur größtmögliche Abwechslung, sie hat auch den Vorteil, die Spannung bis zum letzten Kapitel zu erhalten. Als die dritte Leiche, wieder mit einem versteckten Hinweis auf den Mörder, gefunden wird, dämmert Beck, dass die Toten etwas mit ihm und seiner Zeit in einem Lager in Sibirien zu tun haben (könnten).
Der Spannung wird bei Balàka nicht alles untergeordnet: Zeitkolorit und die Moral spielen eine ebenso große Rolle. Für Joseph Roth verklärte sich die Habsburgermonarchie durch alles, was danach kam. So nimmt der Bezirkshauptmann Trotta das unehrenhafte Ausscheiden seines Sohnes aus der Armee vergleichsweise gelassen hin. Becks Vater dagegen wird bei Balàka zum sadistischen Tyrannen, der seinen Sohn dafür verachtet, dass er sich gefangen nehmen lässt.
Ä hnlich wie Karl Kraus rechnet die Autorin mit dem Gerede von der "großen Zeit" ab und all jenen, die im Krieg nur so eine Art Abenteuer sehen wollen. Was dabei ein wenig zu kurz kommt, ist die "Beziehungsgeschichte" zwischen Beck und seiner Frau Marianne. Wie es die beiden schaffen, wieder zusammenzufinden, wäre aber wohl ein eigener Roman. Dieser hier erzählt jedoch nachdrücklich davon, was passiert, "wenn die Normalen allesamt kriminell" werden.

Christine Rigler in http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/balaka_eisfluestern/

Sascha Michel in der Frankfurter Rundschau, 13.12.2006:
http://www.fr-aktuell.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/literatur/?em_cnt=1030540
http://www.perlentaucher.de/buch/25983.html

Daniela Strigl in Der Standard (Album), 13./14.1.2007
Weiße Flecken
" Eisflüstern", Bettina Balàkas gelungener Roman über das postkakanische Wien und einen Kriegsheimkehrer
Wenn Beck bei minus 45 Grad ausatmete, entstand vor seinem Mund eine Wolke aus weißen Kristallen, mit einem eigenartigen, knisternden Geräusch, 'Eisflüstern' wurde das genannt." Oberleutnant Balthasar Beck erinnert sich an das Kriegsgefangenenlager in Sibirien, in dem es lange nicht so besinnlich-kreativ zuging, wie es weiland dem Leutnant Heimito von Doderer beschieden war. Wenn man heute nach weißen Flecken im Geschichtsbild des Landes sucht, dann findet man sie nicht um 1938, sondern um 1918. Es gibt in der gegenwärtigen österreichischen Literatur wenige Romane, die sich ernsthaft mit der Zäsur des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch der Monarchie und dem Leben in der neuen Republik beschäftigen. Susanne Ayoub hat (mit Engelsgift) Derartiges versucht und ist über düstere Kolportage nicht hinausgekommen.
Jetzt hat Bettina Balàka ein Buch vorgelegt, das man, wäre militärische Metaphorik hier nicht anrüchig, getrost einen Volltreffer nennen könnte: Eisflüstern verknüpft Zeitgeschehen, psychologische Studie und Krimihandlung auf so verblüffend souveräne Weise, dass man sich fragt, weshalb im allgemeinen Jubel über das neue heimische Erzählwunder, über die Herren Geiger, Hochgatterer, Glavinic und Kehlmann, so wenig von Balàka die Rede war.
Zunächst ist dies alles andere als "Frauenliteratur", in des Wortes einschränkender Bedeutung. Männlich sind hier nicht nur die bevorzugten Erzählperspektiven, "männlich" im Sinne herkömmlicher Zuschreibungen ist auch die Autorenposition. In Eisflüstern nimmt Balàka sich ein Stück österreichischer Weltgeschichte vor, ohne Zögern und Zimperlichkeit, und richtet es sich nach Bedarf zu. Balthasar Beck, die Hauptfigur, erleidet ein typisches Heimkehrerschicksal: 1922 kehrt er, nach siebenjähriger Abwesenheit, per Schiff aus Russland nach Wien zurück, wo ihn die Autorin mit dezenter Symbolik beim "Friedhof der Namenlosen" in Albern an Land gehen lässt. Ein Kamerad ist, in Sichtweite des Leopoldsberges, an Bord auf absurde Weise ums Leben gekommen. Lange traut Beck sich nicht heim zu Frau und Tochter - die er noch nie gesehen hat. Er hat Angst, seine Marianne könnte inzwischen einen anderen gefunden haben. Das hat sie tatsächlich, was aber nur der Leser, nicht der Gatte erfährt, der schließlich doch nach Hause findet.
Balthasar Beck ist ein geschlagener, demoralisierter Mann, einer, der nicht einfach dort weitermachen kann, wo er vor dem Krieg stand, als "das Schlimmste, was ihm passieren konnte", fallende Börsenkurse waren oder "ein ungemütliches Diner oder ein lahmendes Pferd." Nicht der Hunger und die Unruhen in der einstigen Haupt- und Residenzstadt, nicht die neue Armut der Familie entmutigen ihn: Er hat ständig vor Augen, was er im Feld, im Lager erlebt und getan hat, und Balàka schildert das Schreckliche mit großer Genauigkeit, ganz unaufgeregt, ohne falsches Tremolo und daher umso eindringlicher. Die Autorin hat offenbar gründlich recherchiert, historisches Gerüst und Kolorit überzeugen, sieht man davon ab, dass ein defätistisch aufmüpfiger Gymnasiast unter Franz Joseph nicht strafweise an die Front gekommen sein kann: Dienstpflichtig war man erst mit 21.
Ä hnlich wie der junge Leutnant in Franz Werfels zeitgenössischem Umbruchsroman Barbara oder Die Frömmigkeit (1929) leidet Beck, obzwar fortschrittlich gesinnt, unter dem Kollaps der militärischen und staatlichen Ordnung, unter dem Verlust des Offiziersprestiges. So sympathisierte er zunächst mit den Bolschewiken, kämpfte gar in der Roten Armee, um in Wien politische Abstinenz zu beschließen und seiner Frau ihre Mitarbeit bei den Kommunisten übel zu nehmen. Nach und nach taut Beck auf, er bemüht sich, Autorität anders auszuüben als sein despotischer Vater, er findet wieder zu seiner Frau und gewinnt die Zuneigung seiner Tochter.
Als Beck versucht, seinen alten Posten bei der Kriminalpolizei zurückzuerobern, trifft er seinen einstigen Freund und Vorgesetzten Moldawa zu eben jener mittäglichen Stunde beim Cognac am Schreibtisch an, die jener in Friedenszeiten einzuhalten pflegte. Beck hatte also Recht gehabt zu vermuten, dass, "auch wenn das Osmanische Reich und das Zarenreich und das Deutsche Kaiserreich auseinandergebrochen waren" die "uralte österreichische Amtsgepflogenheit der ausgedehnten Mittagspause immer noch bestand". Der Postenkommandant, den der Leser schon als allzu fürsorglichen Freund des Hauses kennen gelernt hat, gesteht dem totgehofften Rivalen eine Bewährungsprobe zu: Da gibt es einen passenden Fall um ein ausgegrabenes Veteranenskelett und ermordete Offiziere a. D., der bald mit dem ermittelnden Beck verknüpft zu sein scheint und der Autorin erlaubt, das postkakanische Zeitpanorama mit dem roten Faden eines Kriminalrätsels zusammenzuhalten.
Bettina Balàka beweist mit Eisflüstern, dass konventionelles, mit Einfallsreichtum und Lust am Detail praktiziertes Erzählen durchaus spannend sein kann. Ob sie Balthasars froststarres Innenleben ausbreitet oder Marianne über Gattenliebe und Versuchung nachdenken lässt oder den jungen Inspektor Ritschl (der kein Bösewicht ist) über den verderblichen Einfluss der jüdischen Rasse: Der Ton stimmt. Die Stärke von Eisflüstern liegt nicht zuletzt im Atmosphärischen. Balàkas Sprache ist präzis und sinnlich, zum Beispiel bei der grandiosen Beschreibung einer im Mühlrad hängenden Leiche. Und das Deutsch ist ein kongenial österreichisches, bis auf wenige Ausrutscher (wie das Wort "Fenstergardinen", das auch in höheren Breiten überdeterminiert wäre).
Vielleicht hätte man sich den Schluss der Geschichte - nicht die Krimi-Lösung - so plausibel wie das Ganze gewünscht. Die Freude über ein hervorragendes Buch wird dadurch nicht getrübt. (Daniela Strigl/ ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 13./14.1.2007)

Susanne Schaber in Literatur und Kritik 409/410, November 2006:
Lose treibende Weltstücke
Zwischen den Kriegen: Balàkas Roman "Eisflüstern"
Da sitzen sie also im Central, schlürfen ihre Melange, ordern Sandwiches und Dobostorte und tun so, als wäre nichts geschehen. Balthasar Beck drückt sich die Nase am Fenster des Kaffeehauses platt und kann es nicht fassen: Man schreibt den September 1922, er ist eben erst aus Krieg und Gefangenschaft nach Wien zurückgekehrt. Und nun das: Das Café Central, voller denn je, daneben der neu eröffnete Herrenhof, und überall Menschen, an denen der Krieg fast spurlos vorbeigegangen zu sein scheint, während er selbst vor den Türen steht und sich nicht traut, in sein früheres Leben zurückzukehren.
" Eisflüstern", so der Titel des neuen Romans von Bettina Balàka, ist die Geschichte einer Orientierungslosigkeit, eines Verstummens und einer stillen Revolte. Sie führt zurück ins Wien der Zwischenkriegsjahre und damit in eine Gesellschaft ohne innere Heimat. Mit dem Untergang des k.u.k. Reiches ist auch das eigene Selbstverständnis verschwunden, mit der Erfahrung des Ersten Weltkriegs der Glaube an Humanität und Menschenwürde. Umso hektischer, aber auch vergeblicher die Versuche, an das Lebensgefühl anzuknüpfen, das einen vor 1914 getragen hat. Dobostorte und Melange, Oper und Heuriger, alles wie immer, aber alles auch ganz anders. Balàka zeichnet eine Epoche des Übergangs und versucht sich dabei an einem Kolossalgemälde. Das muss man sich trauen. Umso größer das Staunen, wie selbstverständlich sie es schafft, Geschichte plastisch werden zu lassen und die Erfahrungen eines Menschen einzufangen, den der Krieg aus der Bahn geworfen hat.
Balthasar Beck ist Kriminalbeamter, als man ihn 1914 einzieht. Schon ein Jahr später gerät er in Gefangenschaft und wird in ein sibirisches Lager überstellt. Er überlebt Schikanen und Fronarbeit, kämpft auf der Seite der Roten Armee gegen die Weißgardisten und findet erst 1922 zurück nach Wien. Tagelang streunt er durch die Stadt. Er hat keine Eile, zu Frau und Kind nach Hause zu kommen und schiebt die Begegnung immer wieder auf. Wer weiß, ob ihn daheim nicht ein neuer Mann und die längst erkaltete Liebe von Marianne erwarten? Für seine Tochter Aimée ist er ein Fremder, und überhaupt: Hat er mit dieser Welt von gestern noch etwas zu schaffen? Es dauert drei Wochen, ehe er an Mariannes Türe klopft. Sie nimmt ihn wieder auf, das wohl. Doch sie spürt, wie kalt es in ihm ist, sibirisch kalt. "Wenn Beck bei minus 45 Grad ausatmete, entstand vor seinem Mund eine Wolke aus weißen Kristallen, mit einem eigenartigen, knisternden Geräusch. Eisflüstern wurde das genannt."
Dieses "Eisflüstern" ist nicht nur Titel des Romans, sondern gibt auch dessen Stimmung vor: Der Roman ist die Geschichte einer inneren Vereisung. Ohne sie wäre Beck in Sibirien zusammengebrochen, sie hat ihn vor dem Verrücktwerden gerettet. Doch nun, zurück in Wien, wird er die Kälte nicht mehr los. "Er wusste, dass die Welt in Stücke zerfallen war, dass an der Peripherie der lose treibenden Weltstücke sich Wahnsinn und Eis und erschossene Kinder drängten, dann in den inneren Schichten das Gleiche, immer weiter, nur ganz in der Mitte gab es winzigkleine Stücke von Erinnerung oder Wünschen."
Auch die erzählerische Form von Balàkas Buch spiegelt die zerborstene Welt. Das einstmals sinnstiftende große Gefüge ist zerbrochen, der Roman zerfällt in 35 Splitter, jeder von ihnen mit einem lakonischen Titel versehen: eine Serie von Fragmenten, die immer wieder zusammenkommen und auseinanderdriften. Eine gelungene Form für ein Buch über desperate Zeiten.
Beck sucht in sein einstiges Leben zurückzufinden. Er wird bei seinem früheren Chef vorstellig. Ob man ihn noch brauchen könne? Eine Probezeit wird ihm zugestanden, gerade jetzt scheint man einen wie ihn vielleicht doch wieder zu benötigen: Eine Serie mysteriöser Morde lässt die Polizei im Regen stehen. Die Toten, allesamt Kriegsheimkehrer, sind auf grausamste Weise gequält und umgebracht worden. Vielleicht kann Beck da was finden? Ihm zur Seite stellt man den Kollegen Ritschl, der sich alsbald als strammer Nationaler entpuppt und seinerseits Beck zu observieren sucht. Könnte doch sein, dass Beck mit dem oder den Mördern unter einer Decke steckt, mutmaßt er. Und überhaupt: Ob der sich nicht schäme für seine Frau, immerhin sei Marianne Jüdin und Aimée ein Judenbankert. Wo's doch jetzt hoch an der Zeit sei, aktiv zu werden: "Alles Jüdische, dem Goldenen Kalb des Zynismus Geopferte muss ausgeschwitzt werden. Das Jüdische ist die Skepsis, das Deutsche die Begeisterung! Die Herzen müssen vom reinen Leben durchsäftet werden, nicht die Gehirne vom Intellektuellendreck verödet."
Vieles gehört aus-, anderes nur angesprochen. Bettina Balàka findet die Balance, sie hört die Töne hinter den Parolen, ortet die Verwirrung und Unsicherheit der Menschen in jenen Jahren, da ihnen der feste Boden unter den Füßen entzogen ist. Gerade auch dieser Beck taumelt durch den Alltag. Der Glaube an die Tröstungen von Ideologie oder Religion ist ihm längst abhanden gekommen, das Glück im stillen Winkel entpuppt sich als faules Versprechen. Mit seiner Frau will sich die frühere Innigkeit nur langsam wieder einstellen. Während seiner Abwesenheit hat Marianne an Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit gewonnen. Hinter diese Errungenschaften will sie nicht mehr zurück, die Verbindung mit Beck braucht ein neues Fundament. Doch das ist schwer zu bauen in einer Situation, da Misstrauen beider Gefühle lähmt. Was soll und kann Beck Marianne von seinem Leben in Russland erzählen, wie weit kann er gehen - und wieviel davon möchte sie überhaupt wissen?
Nun, da ihn Friede umgibt, überfallen Beck die Erinnerungen gemeiner denn je. Alles scheint wieder da: die Kälte in den Baracken des Lagers, der Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn, die Angst vor Typhus und Fieber, der Hunger. Diebstahl, Betrug und Verrat gehören zum Alltag, Beck stumpft ab. Da ist noch Valentina, bei der er am Baikalsee untergeschlüpft war. Ein Taschentuch hat sie ihm mitgegeben auf dem Weg nach Hause, ihre kyrillischen Initialen hat sie ungelenk in eine der Ecken gestickt.
Das alles könnte zum Rührstück werden. Bettina Balàka bleibt vorsichtig und zurückhaltend. Dort, wo ihr Erfahrung und Detailkenntnisse fehlen, schweigt sie.
Andernorts hat sie genau recherchiert, so dass ihr Roman erstaunlich sinnlich und vital wirkt. Allein der Kriminalfall, der Sibirien und Wien ein weiteres Mal aneinanderkettet, gerät in seiner Drastik zum Holzschnitt. Es scheint fast, als hätte die Autorin ihrem eigentlichen Stoff, der Heimkehrergeschichte, nicht ganz getraut. Und so schiebt sie ihm die Kriminalhandlung unter. Der Fall ist spannend, auch das Finale mit seiner Wendung ins Unerwartete. Aber manchmal kommen sich die beiden Geschichten dann eben doch in die Quere. Sie haben nicht die gleiche Tonart und Lautstärke. Doch die leichte Störung hält nicht nachhaltig an.
" Die Erinnerungen konnten einen krank machen, die Angst vor dem Kommenden auch; man hatte keine Gegenwart." Bettina Balàka erkundet das Niemandsland. Man bleibt ihr gebannt auf den Fersen.

BRIGITTE Nr. 3, 17.1.2007:
Bewohner im Eispalast
Bettina Balàka, bekannt geworden durch fantastische Erzählbände wie "road movies", begibt sich in ihrem zweiten Roman "Eisflüstern" zurück ins Jahr 1922. Als Balthasar Beck nach jahrelanger Kriegsgefangenschaft von Russland nach Wien heimkehrt, sind die Spuren des ersten Weltkriegs noch unübersehbar. Trotzdem nimmt das Leben fast schon seinen geregelten Lauf und die Zukunft dämmert bereits bedrohlich herauf. Die Distanz zur Familie scheint zunächst unüberbrückbar, schlimme Erinnerungen überschatten alles. Wie zum Beispiel der Schrecken des Eisflüsterns ... Aber immerhin: seinen alten Job bei der Mordkommission bekommt Beck wieder. Sein erster Fall ist eine brutale Mordserie, deren Spuren in seine eigene sibirische Vergangenheit zurückreichen. Mehr wird nicht verraten. Denn die mehrfach preisgekrönte Autorin malt nicht nur ein außergewöhnlich lebendiges und einfühlsames Sittenbild der physisch wie psychisch ramponierten Zwischenkriegsgesellschaft. Sondern liefert zudem eine spannungsgeladene Zeitstudie.

Werner Krause in der Kleinen Zeitung, 9.12.2006:
Grandiose Erzählkunst
Viele falsche Fährten
Nach wenigen Seiten meint man, einen bisher unveröffentlichten Roman von Joseph Roth in Händen zu halten, alsbald scheint es, als hätte Meister Mankell einen Wien-Krimi geschrieben. Falsche Fährten. Die Autorin heißt Bettina Balàka und ihr ist ein großartiges Buch über das morbide Wien der 20er-Jahre geglückt; Thriller, Gesellschaftspanorama, Tragödie – ein grandioses Gesamtprosawerk.

Frido Hütter in der Kleinen Zeitung (Graz), 10.1.2007:
Das anhängliche Echo Sibiriens
" Eisflüstern" – ein Buch des Jahres, das wohl noch einige Jahre Gültigkeit behalten wird. Bettina Balàka schrieb über zerbrochene Reiche und gebrochene Männerseelen.
Er hatte gewusst, dass er nur überleben konnte, indem er sich ganz und gar in eine innere Eiswelt zurückzog, in der ein Tag so bedeutungslos wie der andere verging, jeden Morgen fand er sich festgefroren an seiner Pritsche in einem Erdbunker, er hatte Mariannes Bildnis begraben in einem grauenvollen Leichenhaufen von Kameraden, ungezählte, die von den Pritschen herabgestürzt waren, die monatelang im Hof aufgestapelt lagen wie Scheiter, und die er mit anderen grauen Menschen im Frühjahr begrub.
Eindringlich, ohne falsche Feierlichkeit schildert Bettina Balàka die Jahre des knappen Überlebens in Sibirien, deren anhängliches Echo den 1922 heimgekehrten Oberleutnant Balthasar Beck noch lange Zeit in Wien begleitet.
Bildermacht
" Eisflüstern", bereits etliche tausendmal verkauft, aber doch (noch) im Schlagschatten von vorjährigen Megasellern von Daniel Kehlmann, Arno Geiger etc., ist zweifellos eines der besten Bücher der letzten Saison. Mit mächtigen Bildern, detaillierten Schilderungen und ungeheurer Einfühlung in die von Gott, Kaiser und Vaterland verhökerten Mannsbilder hat dieser Roman eine Qualität, die an Werke Christoph Ransmayrs und Isabel Allendes gemahnt. Die Balàka, längst literarische Fixgröße, hat sich damit in ihren einstweiligen Olymp geschrieben.
Im Wiener Traditionscafé Eiles erregt die Autorin keinerlei Aufsehen: Unauffällig winterlich gewandet, die blonden Haare in einem breiten Stirnband geborgen, sitzt sie in einer Fensternische und raucht. Kaffeehäuser sind ohnedies nicht ihr klassisches Biotop. Schon eher Bibliotheken, Archive und fallweise auch Flohmärkte. Auf Letzteren hat sie viele Tagebücher von Teilnehmern am 1. Weltkrieg aufgefunden: "Es gibt wenige weibliche Dokumente aus dieser Zeit", sagt Bettina Balàka auf die Frage, warum die Beschreibung männlicher Befindlichkeit in ihrem Buch so eindrucksvoll dominiert.
Recherche
Drei Jahre hat sie an "Eisflüstern" gearbeitet, rund zwei davon in Recherche investiert. Was bringt eine 40-jährige, die auch als Lyrikerin reüssierte, auf die Zeit der zerbrochenen Monarchie? "Das liegt lange zurück", erzählt sie. "Für mich war Habsburg eine ferne, historische Epoche ohne persönliche Anbindung." Erst die von der Regierung Kreisky erlaubte Heimkehr der letzten Kaiserin, Zita, und später deren Ehrenbegräbnis hätten ihr Interesse geweckt.
Qualen
Dazu komme ein spezieller Schauplatz irdischer Qualen, das Lager: "Irgendein kluger Mensch hat gesagt: Die paradigmatische Existenz des 20. Jahrhunderts ist die Lagerexistenz. Tatsächlich war das eine Zeit, in der Millionen in Lagern verschwanden. Mich hat interessiert, mit Hilfe welcher psychologischer Mechanismen man eine solche Situation überstehen kann."
Balàkas Protagonist, Balthasar Beck, hat es überstanden, findet sich aber als Kriminalpolizist alsbald in einen Fall verstrickt, dessen Wurzeln zurück in eine grauenvolle Tragödie in Sibirien reichen. Womit zur erzählerischen Qualität des Buches eine ordentliche Portion Spannung kommt, die bis zur letzten Seite anhält.

News Nr. 51/52, 21. Dezember 2006: "Top-Roman über Wien nach 1918."

Barbara Talmon in SBD.bibliotheksservice, November 2006:
Bettina Balàka: Eisflüstern
Wien 1922: der ehemalige Kriminalpolizist Balthasar Beck kommt aus der russischen Gefangenschaft in ein Land, eine Gesellschaft und eine Familie zurück, die ihm fremd geworden sind. Die Daheimgebliebenen scheinen durch den Zusammenbruch der alten KuK-Herrlichkeit mit ihrem starren Klassensystem nicht weniger verstört als der Heimkehrer durch seine Kriegserlebnisse. Beim zaghaften Versuch, im alten Beruf wieder Fuss zu fassen, soll Beck in einer Reihe mysteriöser Mordfälle ermitteln, die offensichtlich in Zusammenhang mit seiner Zeit in einem sibirischen Lager stehen. Nun muss sich der alte Soldat quälenden Erinnerungen stellen. Die spannende Krimihandlung bildet allerdings nur den Rahmen für das klarsichtige Porträt einer durch Krieg, Elend und Schuld traumatisierten haltlosen Generation, das in seinen scharfsinnigen politischen und psychologischen Analysen viele Parallelen zur aktuellen Weltlage aufweist. Ein aussergewöhnliches Buch für Leser mit gehobenen Ansprüchen.


Ulrike Sárkány im NDR, 22.1.2007:
http://www.ndrkultur.de/ndrkultur_pages_stdep/0,2515,OID3597754_REF164,00.html

Barbara Belic auf steiermark.orf.at, Jänner 2007:
http://steiermark.orf.at/magazin/immergutdrauf/kultur/stories/130280/

Jan Koneffke im Deutschlandfunk, 06.02.2007:
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/590901/

Susanne Rössler in Österreich, 28. Oktober 2006:
Bestseller aus Österreich
Die 40-jährige Salzburgerin Bettina Balàka kam mit Eisflüstern, einem erzählerisch dichten, historisch genauen Panorama des entbehrungsreichen Alltags im Nachkriegsösterreich in die Top Ten der ORF-Bestenliste im November, die von heimischen Literaturkritikern erstellt wird.


Markus Bundi in der Aargauer Zeitung, 26. Oktober 2006:
Vor und nach dem Krieg
Eisflüstern In Bettina Balàkas neuem Roman kämpft Kommissar Balthasar Beck gegen das Trauma des Ersten Weltkriegs.
Wenn heute eine Schriftstellerin vier Jahre lang kein Buch mehr publiziert, beginnt man sich Sorgen zu machen. Fällt ihr nichts mehr ein? Ist sie ernsthaft erkrankt? Hat sie den Beruf gewechselt? Doch gibt es eine weitere mögliche Ursache: Sie arbeitet an einem Ding, an einem großen Ding, wie es Bettina Balàka tat. Bis ins Jahr 2002 veröffentlichte die Autorin drei Gedichtbände, drei Bände mit Erzählungen, einen kurzen Roman und einen Essay – und dann, so möchte man meinen, holte sie ganz tief Luft, setzte sich hin, versetzte sich zurück ins Wien von 1922 und setzte ein bei der Rückkehr von Balthasar Beck, einem Kriminalkommissar Mitte dreissig, für den der Krieg, sprich die Kriegsgefangenschaft in Sibirien, etwas länger gedauert hatte.
"Eisflüstern" nennt die 40-jährige Autorin ihren 400 Seiten starken Roman; "Eisflüstern", das meint das "eigenartige, knisternde Geräusch", wenn man bei minus 45 Grad ausatmet. Aus solch unwirscher Gegend kehrt Beck zurück, wissend, dass zu Hause Frau und Kind auf ihn warten, wissend auch, dass er trotz seiner 34 Jahre bereits zum Greis geworden ist. Er beschließt, nicht sogleich die Familie aufzusuchen, will sich in der Heimat erst akklimatisieren, sich der neuen Gegenwart annähern, die jedoch immer wieder von Erinnerungen an die Gräuel des Krieges verdrängt wird.
Keine einfache Zeit, auch rückblickend. Balàka stellt ihre Hauptfigur mitten in ein dunkles Kapitel österreichischer Geschichte: Die Monarchie ist abgeschafft, die Kriegsschuld drückt, der Antisemitismus keimt neu auf. Wien liegt auf jener Linie, die den Westen künftig vom Osten zu trennen scheint, auf der einen Seite das Deutschtum (das Aufkommen der NSDAP), auf der anderen der Kommunismus (1922 ist auch das Gründungsjahr der UdSSR, der "Union der sozialistischen Sowjetrepubliken"). Beck gewinnt nach und nach einen Überblick, findet schließlich zurück in die Familie, lernt seine Tochter kennen, und er bekommt sogar den Job bei der Polizei zurück – wenn auch nur auf Probe. Doch sein neues Leben wird überschattet, zwei seltsame Morde ereignen sich, und beide verweisen auf Becks Zeit in Sibirien. Es gibt kein zweites Leben, nach dem Krieg ist – nicht nur historisch betrachtet – vor dem Krieg, und Beck sieht sich plötzlich selbst im Kreis der Verdächtigen. Im Zuge der Ermittlungen setzt sich das Puzzle allmählich zusammen, jenes, die Mordfälle betreffend, aber auch jenes, das des ehemaligen Oberleutnants Vergangenheit – Becks Rolle(n) im Krieg – allmählich erhellt.
Die Spannung, die der Roman um die beiden grausamen Mordfälle aufbaut, wie auch die Geheimnisse um die Hauptfigur Beck machen jedoch nur einen Teil von "Eisflüstern" aus, die Oberfläche sozusagen. Getragen wird dieser Roman von einer dichten und überaus präzisen Sprache, einem Duktus der Langsamkeit, darin sich die zwischenmenschlichen Beziehungen der Figuren dem Leser auf organische Weise erschliessen. Denn erst im gesellschaftlichen Gefüge, im Geflecht der Menschen in ihrer Zeit, wird Becks Schicksal zu einer einzigartigen Geschichte, zu einem erschütternden Exempel.

Hertwiga Kröss in den "aktuellen Buchtipps" für Februar 2007, gemeinsam erstellt von der STUBE und dem Österreichischen Bibliothekswerk:
http://www.biblio.at/buchtipps/

Katharina Narbutovic in WDR3: "Gutenbergs Welt", 22. Oktober 2006:
Wien. 1922. Eine ganz gewöhnliche Bäckerei. Doch als Balthasar Beck, der gerade erst aus dem Krieg heimgekehrt ist, den Laden betritt, da scheint ihm, er sei in einer orientalischen Pfefferkammer gelandet: so betörend duften die frischgebackenen Milchbrote, Rundsemmeln, Apfel- und Marillenkuchen mit dem karamelisierten Staubzucker obenauf, dass ihm ganz schwindelig wird. Ein Sog geht aus von den Wohlgerüchen wie von einer weichen Schneewehe in sibirischer Eiseskälte, auf die man sich betten möchte, um ein wenig auszuruhen – und auf immer einzuschlafen. Gäbe Balthasar Beck dem Sirenengesang der süßen Kuchenstücke nach, er würde in einen Fressrausch verfallen, wahllos alles in sich hineinschlingen, um es kurz darauf wieder zu erbrechen, im Erbrochenen nach Fruchtstückchen suchen, um diese sich erneut in den Mund zu schieben, und in einer Endlosschleife landen aus Fressrausch und Erbrechen und Wahn. Nicht leicht ist es, nach einem Leben in der Finsternis in den normalen Alltag zurückzufinden. Nach acht Jahren Krieg und Gefangenschaft verträgt ein auf ein Nichts zusammengeschrumpfter Magen nur mehr kleinste Brocken trockenen Brots.

34 Jahre ist Balthasar Beck alt, als er im September 1922 aus russischer Gefangenschaft nach Hause zurückkehrt. Da ist der Krieg schon seit vier Jahren vorbei. Das Leben pulsiert, die Kaffeehäuser sind voller Menschen, und alle scheinen sich an die neue Zeit, die Republik und ein Österreich ohne Kaiser gewöhnt zu haben. In dieser Umgebung wirkt der abgemagerte Beck mit seiner zerschlissenen k.u.k.-Uniform wie eine Schießbudenfigur, wie ein Wiedergänger, wie "geschichtsloser Knochenmüll". Und auch für Beck ist es, als sei er auf einem anderen Stern gelandet. Er hatte Wien im Hochsommer 1914 verlassen, als Offiziere in der Gesellschaft noch etwas galten und alle glaubten, Krieg sei so etwas wie ein Tennismatch, "nach dem man einander die Hand schüttelte und Erfrischungen gereicht werden". Und wie ganz Österreich hatte auch er in seiner Vorstellung keinen Plan vorrätig gehabt "für etwas, das außerhalb" der "Kaiserwelt lag, an der" sich alle "festgehalten" hatten. Ein einsamer Fremder in einer zerborstenen Welt, stromert Balthasar Beck über Tage durch Wien, nächtigt im Türkenschanzpark und zögert, nach Hause zurückzukehren – wer weiß, ob seine Frau Marianne nach Jahren ohne jedes Lebenszeichen sich nicht schon längst einen anderen gesucht hat.

Doch auch dann, bereits zurückgekehrt zu Frau und sechsjähriger Tochter, wird Balthasar Beck die Einsamkeit nicht los: die Einsamkeit der Erinnerung an die Hölle von Krieg und Jahren der Gefangenschaft in einem Lager unweit der Grenze zur Mandschurei, eine Hölle, in der Menschen einander nicht nur getötet, sondern auch in sadistischem Blutrausch einander gequält und in der Seele zerstört haben – wie den zwölfjährigen Jungen, der wegen eines winzigen gestohlenen Messers von kultivierten, gebildeten Männern eine endlose Nacht lang sodomiert wurde und der sich darauf einen rostigen Nagel in die Halsschlagader trieb. Und die Einsamkeit der inneren Eiswelt, in die Balthasar Beck sich eingekapselt hat, um die vielen Höllenkreise als Mensch zu überleben und sich selbst nicht über all dem Wahn und Grauen abhanden zu kommen. Wie Bettina Balàka es als Nachgeborener gelingt, die Erfahrungs- und Erkenntnisessenz der eisigen Jahre des Ersten Weltkriegs zu erfassen und in ein "Eisflüstern" zu gießen, das ihren Roman als Grundton durchzieht, das ist beeindruckend.

Ö1 Magazin, September 2006:
Mit diesem Roman führt eine der talentiertesten jungen österreichischen Autorinnen ihre Leser zurück ins Wien der frühen 1920er Jahre. Die Monarchie ist längst abgeschafft, lebt aber in den Köpfen noch weiter, ein sich langsam radikalisierender Antisemitismus wird spürbar. In dieses historisch genau recherchierte Gesellschaftspanorama stellt Bettina Balàka den Kriegsheimkehrer Balthasar Beck. Mühsam versucht er sich in seinem früheren Leben und an seinem alten Arbeitsplatz, bei der Kriminalpolizei, wieder zurechtzufinden. Grauenvolle Erinnerungen an die Gräuel des Krieges vermischen sich mit aktuellen, rätselhaften Mordfällen...
Buch der Woche 25.9.-1.10.

Alexander Kluy im Rheinischen Merkur Nr. 40, 5.10.2006:
KOMMISSARE AUF ABWEGEN
Wien, 1922. Balthasar Beck, einst Kriminalinspektor, kehrt nach Krieg und sieben Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft in seine Heimatstadt zurück. Nach grauenhaften Grenzerfahrungen ist er ein anderer, von der Donaumonarchie sind nur noch Schemen vorhanden, durchsetzt von Not, Elend, Hunger und neuen politischen Ressentiments. Frau und Kind sind ihm halbfremd geworden. Und dann wird er noch bedrängt von einer rätselhaften Mordserie. Die 40-jährige, in Wien lebende Autorin findet eindrucksvolle Bilder in einer kraftvollen und abwechslungsreichen Sprache.

Erwin Riess in der Presse (Spectrum), 30.09.2006
Das Skelett im Hinterhof
Bettina Balàka legt mit "Eisflüstern" ein erstaunliches Buch vor: ein Epos über das verarmte Wien der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen Kriminalfall, dessen Auflösung bis zum Schluss für Spannung sorgt.
Wien, im Herbst 1922. Nach sie ben Jahren Abwesenheit kehrt der einstige Oberleutnant der k.u.k. Armee Balthasar Beck aus Russland zurück. Auf der Höhe von Mannswörth verlässt er ein Schleppschiff und schlägt sich nach Wien durch. Zerlumpt, erschöpft und nur 42 Kilogramm schwer meldet er sich bei der Heimkehrerstelle am Nordbahnhof.
Als Beck seine Frau Marianne 1915 verließ, wusste er zwar, dass sie schwanger war, darüber hinaus hatte er aber durch sieben Jahre hindurch keinerlei Informationen über seine Familie. Denn er war früh in russische Kriegsgefangenschaft geraten und sukzessive Richtung Osten verbracht worden: Von Westsibirien bis Wladiwostok und an die Grenze zur Mandschurei wurde er von einem Lager ins nächste verschleppt. Später kämpfte er für die Bolschewiken gegen die von General Koltschak geführte Gegenrevolution - traf dort auf frühere Kameraden - und hatte eine längere Affäre mit einer Bäuerin am Baikalsee. Währenddessen brachte Marianne in Wien ein Mädchen, Aimée, zur Welt und führte ihren Krieg gegen Hunger, Kälte und Hyperinflation in der zu einer Metropole des Elends herabgekommenen ehemaligen Reichshauptstadt. Sie nahm eine Büroarbeit an und schöpfte daraus ein starkes Selbstbewusstsein. Die neuen republikanischen Verhältnisse sahen die frühere Offiziersgattin rauchend und mit Bubikopf ihr Leben meistern; abends las Marianne für die "Rote Fahne", die Zeitung der jungen KPÖ, Korrektur. Die Wandlung von der behüteten Offiziersgattin zur politisch und beruflich aktiven Republikanerin konnte größer nicht sein.
Der Heimkehrer braucht lange, bis er die Kraft findet, seine Familie aufzusuchen. Mit einer Mischung aus Schock und Erleichterung nimmt Marianne den verschollen Geglaubten auf. Noch ist der Mann, der von den Erlebnissen in den Lagern, von Krieg und Bürgerkrieg schwer traumatisiert ist, nicht wirklich zu Hause angekommen. Schon in der ersten Nacht verlässt er die Schlafstatt neben seiner Frau und legt sich im Vorzimmer zum alten Hund auf den Boden. Als das Mädchen sich morgens über ihn beugt, antwortet er mit einem Reflex der Faust, der Aimée um ein Haar schwer verletzt. Das Töchterchen ist von der Wildheit und Fremdheit der Jammergestalt abgestoßen, lange Zeit gelingt es Beck nicht, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, was damit zu tun hat, dass Beck einen despotischen Vater hatte, der sein Kind mit Prügeln, Strafen und Vorwürfen überschüttete und der im ersten Jahr der Lagerexistenz dem Gefangenen Beck ausrichten ließ, er geniere sich dafür, einen Sohn zu haben, der die Frechheit und Feigheit besäße, sich vom Feind überrumpeln zu lassen.
Tagsüber treibt Beck sich im winterlichen Wien umher, auf der Suche nach Nahrung und in der Nähe seiner alten Arbeitsstätte am Kriminalkommissariat. Sein früherer Kollege Moldawa vermag ihm zwar keine Beamtenposition in Aussicht zu stellen, die Mitarbeit an einem ungewöhnlichen Kriminalfall verbessert Becks Chancen aber so nachhaltig, dass sein Wiedereintritt in die alte Berufslaufbahn als Polizeioffizier möglich wird. Lange Zeit hat es den Anschein, als würde Beck nicht nur selbst in diesen Kriminalfall verstrickt sein, einige Tage lang steht er sogar selbst unter Tatverdacht. Ein Skelett war in jenem Haus aufgetaucht, in dem Beck wohnte, kurz darauf wurde auf dem Treibrad einer Schiffsmühle eine Leiche gefunden, zerfetzt von einer russischen Nagaika-Peitsche und um neun Finger amputiert. Schließlich taucht noch die Leiche eines weiteren Kriegsheimkehrers und ehemaligen kaiserlichen Offiziers in einem Eisblock auf. Beck gelingt es, den Zusammenhang zwischen den Morden so weit zu rekonstruieren, dass klar wird: Sie gehörten einem Offizierskomitee eines Lagers in Sibirien an. Das Komitee bestand aber noch aus einem vierten Offizier: Balthasar Beck. Der Heimkehrer kann sich also ausrechnen, wann er an die Reihe kommen wird, hat aber keine Ahnung, weshalb und durch wen er gemeuchelt werden soll.
Die Lösung des Falles soll hier nicht verraten werden, angemerkt sei nur, dass ein aufgeweckter Wiener Mittelschüler namens Lintschinger darin eine zentrale Rolle spielt. Das Komitee war nämlich dazu verpflichtet, Fluchtpläne dem Kommandanten zu melden, andernfalls zehn Prozent der Lager-insassen getötet würden. Als eines Tages eine Gruppe von Gefangenen einen Fluchtplan ausheckte, wurde das Vorhaben verraten. Das Komitee meldete dies der Obrigkeit. Daraufhin wurden die zehn Fluchtbereiten vor versammelter Lagerbelegschaft gepeitscht und im Schnee liegen gelassen. Bettina Balàka legt mit diesem umfangreichen Roman ein erstaunliches Werk vor. Ein Epos über das devastierte Wien der frühen Zwanzigerjahre, gekleidet in einen Kriminalfall, dessen Auflösung bis zum letzten Moment für Spannung sorgt - wenn auch der Showdown ein wenig konstruiert wirkt. An dem penibel gearbeiteten Text faszinieren besonders die souveräne Sprachbe-herrschung in der Sphäre des Krieges und dessen Widerspiegelung in den Verwerfungen von Becks Psyche. Die Anordnung in kurzen Kapiteln, das Arbeiten mit Rückblenden und psychischen Übertragungen sind durchwegs gelungen.
Verstörend wirkt indes die von den Personen ausgehende Kälte. Beschrieben wird ein liebendes Paar, eine Familie, die trotz aller Anfechtungen durch den Krieg gekommen ist und deren Mitglieder einander wieder gefunden hat. Kaum aber wird man der Emotionen teilhaftig, die diese Menschen ja unbeschadet aller durchlittenen Krisen haben müssen. Streckenweise bewegen sich Beck und seine Frau wie ferngesteuert durch eine romanhafte Versuchsanordnung, in der das Entsetzliche des Kriegs und des Lagerlebens, das Ertragen von Hunger, Kälte und Einsamkeit, zur Prostitution gezwungenen Kindern, von Rattenplage und tyrannischen Kommandanten ausgemalt werden.
Die Autorin ruft diesen Eindruck der Kälte bewusst hervor - nicht umsonst trägt das Buch ja den Titel "Eisflüstern" -, wohl um deutlich zu machen, dass Verhältnisse Menschen niederdrücken und das Menschliche in den Personen ersticken. Dieserart entfaltet Balàka ein kunstvolles, oft dichtes, aber auch seltsam distanziertes Gemälde vom Krieg und den von ihm zerstörten Seelenlandschaften. So ist der beeindruckende Roman auch als Studie über die vom Krieg traumatisierte Psyche eines überlebenden Paares zu lesen

Christa Nebenführ in der WIENERIN Nr. 210, März 2007:

Als Beck 1922 aus der Gefangenschaft heimkehrt, findet er ein verändertes Österreich vor. Präzise recherchiert, spannend bis zur letzten Seite. Ein Glücksfall in der österreichischen Literatur.

Katrin Schuster in der Stuttgarter Zeitung Nr. 63, 16. März 2007:
Wenn die Luft beim Ausatmen zu Kristallen gefriert
Der Kriegsheimkehrer soll wieder Mörder aufspüren: Bettina Balàkas Roman "Eisflüstern"Der Protagonist des Romans "Eisflüstern" verdankt seiner Autorin nicht nur den Gleichlaut im Namen – Bettina Balàka nennt ihn Balthasar Beck –, sondern auch das Datum seiner Geburt, den 27. März, allerdings des Jahres 1888, nicht 1966 wie Balàka. Beck ist 26 Jahre alt, als im Juli 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht. Fünf Jahre nachdem er aus dem Militär und damit der Familientradition ausgetreten war, um Polizist zu werden, wird er erneut eingezogen. Und gerät recht umgehend in russische Gefangenschaft. Erst sieben Jahre später kehrt er heim nach Wien, man schreibt September 1922.
"Beck fand keinen Anschluss an die Zeit, er konnte sich erinnern in Bildern und Sätzen und Ereignisabläufen, ohne je zurückzufinden in dieses Gefühl, dass er sein eigener Herr war." Doch nicht nur Beck, auch Wien hat sich verändert. Das Kaiserreich ist tot, es lebe die Republik! "Die Offiziere (...) die früher hoffähig gewesen seien, seien mit Kriegsende nicht einmal mehr hinterhoffähig", heißt es. Viele der Rückkehrer leben auf der Straße, auch Beck getraut sich drei Wochen lang nicht, an die eigene Wohnungstür zu klopfen. Freiwillig bleibt er ortlos, um dem eventuellen heimischen Platzverlust nicht ins Auge sehen zu müssen. Dann wagt er es, und: ja, Marianne hat auf ihn gewartet (wenngleich nicht immer allein), auch seine Tochter Aimée lernt er endlich kennen.
In der ersten Nacht flieht Balthasar Beck das Ehebett, um neben dem Hund im Gang zu schlafen. Die erdrückende Normalität, die ihn umgibt, ist dem Kriegsteilnehmer schwer begreiflich, oft genug fehlen ihm die Worte, die richtigen zumindest. Nicht so seiner Frau: "Sie redete und redete, wie ein Wasserfall oder, wie man neuerdings sagte: wie ein Maschinengewehr."
Andere Zeiten, andere Wörter: auch der Titel des Romans ist solch ein kriegsbedingter Neuzugang im beckschen Vokabular. "Eisflüstern" nennt man das Knistern beim Ausatmen, wenn bei Temperaturen unter 42 Grad minus die Feuchtigkeit der Lungenluft zu winzigen Kristallen gefriert. Nur Menschen, die wie Beck diesen Klang im eisigen Osten und am eigenen Leib erfahren haben, wissen, was der Begriff bedeutet.
Andere Worte, andere Welt: so macht Balàka lesbar, wie die Sprache unseren Kosmos und unsere Gedanken definiert, wenn sie in den Köpfen ihrer Personnage herumwandert, sie bedient sich deshalb deren je eigener Stimme. Das liest sich glücklich unprätentiös, obwohl es allen Grund zur Eitelkeit böte: der Tonfall, der Takt, die Melodie – da stimmt alles, immer. Zumal sich "Eisflüstern" nicht allein durch menschliche, sondern gleichermaßen durch historische Authentizität auszeichnet; sichtlich viel Recherche steckt in diesem Buch. Und daher rührt eine beeindruckend poetische Wahrhaftigkeit. Es ist mithin kein Zufall, dass Bettina Balàka entlang der Geschichte über Erinnerung und Verortung einen Krimi über Rache und Gerechtigkeit, über Schuld und Sühne schreibt. Bald schon kehrt Beck in seinen Beruf als Kommissar zurück, eine seltsame Mordserie beschäftigt die Polizei. Beck kennt die Toten, nur zu ihm sprechen die Indizien. So kehrt der Krieg wieder in sein Leben ein. Wiewohl er nie vergangen war, nie vergangen sein wird – das ist das Entsetzen des Subjekts, das "Eisflüstern" buchstäblich widerspiegelt. Ein unvergessliches Buch.


Werner Schandor in schreibkraft – das feuilletonmagazin Nr. 14/ 2007:
im osten viel neues
Interview mit Bettina Balàka über den Kriegsheimkehrerkrimi „Eisflüstern“
Eines der beeindruckendsten Bücher des Jahres 2006 hat Bettina Balàka geschrieben. Eisflüstern heißt es, und es ist aus mehreren Gründen erstaunlich:
1.) Balàka arbeitet ein Thema auf, das in der jüngeren österreichischen Literatur ziemlich einmalig ist, nämlich die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als das große Kakanien von den Siegermächten zum kleinen „Deutsch-Österreich“ zusammengestutzt wurde und sowohl ideologisch als auch wirtschaftlich unter Schock stand.
2.) Die Autorin erzählt die Geschichte des traumatisierten Kriegsheimkehrers Balthasar Beck so authentisch, dass man meint, ihr Opa (oder Uropa) hätte in seine Seele blicken lassen und ihr seine Erlebnisse aus Krieg und russischer Gefangenschaft gebeichtet.
3.) Bettina Balàka verknüpft die Heimkehrergeschichte mit einem hard boiled Krimi, wie man ihn in Chicago zur Zeit Al Capones ansiedeln würde, aber nicht in Wien anno domini 1922.
Gründe genug, um die Autorin nach den Beweggründen und der Arbeit an ihrem sprachlich und stilistisch bravourösen Buch zu befragen.
Der Erste Weltkrieg ist in unserer Gesellschaft thematisch kaum präsent. Wie bist du darauf gekommen, einen Roman in dieser Zeit anzusiedeln?
Die Zeit nach 1918 hat mich deshalb so interessiert, da sie mir im öffentlichen Bewusstsein ausgeblendet erschien. Als in Österreich sozialisierte Person hatte ich nur Eckdaten aus dem Geschichtsunterricht im Kopf: 1914 Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 1918 Vertrag von Saint Germain, 1. Republik. Dann ging es weiter in den dreißiger Jahren, Dollfuß-Ära usw. Als ich vor drei Jahren zu recherchieren anfing, fand ich die Lücke auch in den Buchhandlungen: Es gab viel über die Habsburger, dann wieder sehr viel über das Dritte Reich. Der Erste Weltkrieg wiederum war sehr gut dokumentiert über die Westfront, die für Österreich relevantere Ostfront war aber kaum präsent. Durch den 90. Jahrestag des Attentats von Sarajewo 2004 erschien dann mehr über den Krieg, durch die Seligsprechung von Kaiser Karl 2004 wurden auch die letzten Züge der Monarchie neu dokumentiert. Ich wusste ursprünglich nicht einmal, dass die 1. Republik „Deutsch-Österreich“ hieß – da das Wort „deutsch“ durch die Nazizeit so negativ konnotiert ist, will man das offenbar gar nicht mehr sagen. Geradezu bildhaft war dann die Entdeckung der eingefrorenen Soldatenleichen im Ortlermassiv 2004. Sie kamen sozusagen leibhaftig aus dem Eis zurück in unsere Gegenwart.
Woher stammen deine detaillierten Kenntnisse von den Jahren 1914-23?
Ich musste mich komplett einarbeiten, da ich keine außergewöhnlichen Vorkenntnisse hatte. Im Grunde musste ich Mitte des 19. Jahrhunderts anfangen, um die Biografien der Personen zu entwickeln und die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs zu verstehen. Im Wesentlichen habe ich natürlich alles gelesen, dessen ich habhaft werden konnte, und viel Zeit in Museen und an historischen Schauplätzen verbracht. Um möglichst viele visuelle Eindrücke zu bekommen, habe ich auch viel mit alten Fotografien gearbeitet. Beim Lesen habe ich nicht nur wissenschaftliche Werke verwendet, zum Beispiel militärhistorische Dissertationen, sondern auch auf Flohmärkten und in Antiquariaten nach Büchern aus der Zeit gesucht, die schon längst nicht mehr aufgelegt werden. Ich habe versucht, mit dem Material möglichst sorgsam umzugehen, da etwa Kriegserinnerungen von Offizieren natürlich subjektiv gefärbt sein konnten in Hinblick auf die Beschreibung des Feindes, oder gar in propagandistischer Absicht zur Vorbereitung des nächsten Krieges publiziert wurden. Das heißt, ich habe sehr analytisch gelesen und autobiografische oder belletristische Werke immer mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen abgeglichen. Im Detail war der Aufwand enorm: Allein herauszufinden, wie viel im September 1922 ein Laib Brot kostete, nahm Wochen in Anspruch, denn aufgrund der gewaltigen Inflation änderten sich die Preise ja ständig.
Wie kann man sich so gut in aufkeimendes Nazidenken eindenken? Die Figur des Polizeiinspektors Ritschl, des Antagonisten zur Hauptfigur Balthasar Beck, ist als prototypischer Vertreter des damals entstandenen Nationalsozialismus angelegt.
Die Entwicklung des „Nazidenkens“ zu erforschen, war für mich von zentralem Interesse. Das Buch endet nicht zufällig wenige Monate vor dem (noch erfolglosen) Hitler-Putsch in München. Ich halte die These, dass es sich beim Ersten und Zweiten Weltkrieg im Grunde um einen „Dreißigjährigen Krieg“ handelte, für gerechtfertigt. Freudianisch gesprochen: Der Zweite Weltkrieg wurde im Wiederholungszwang geführt. Die allermeisten der großen und kleinen Nazis hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft, ihre Illusionen verloren und verzweifelt nach neuen gesucht.
Im Grunde ging ich wie ein Profiler vor: Um einen Verbrecher zu verstehen und dinghaft zu machen, muss ich mich möglichst präzise in sein Denken einfühlen. Die Sprache spielte meines Erachtens eine ganz wesentliche Rolle; es war schon vor dem Ersten Weltkrieg im Journalismus ganz normal, dass mit unglaublich pathetischen, unsachlichen, bombastisch-gefühlsbetonten Phrasen argumentiert wurde.
Den Nazismus als Massenphänomen kann man nicht verstehen, wenn man davon ausgeht, dass die Menschen doch Gut und Böse voneinander unterscheiden hätten können – abgesehen von der stets existenten Zahl Verbrecher, die sowieso das Böse wollen. Viele aber waren überzeugt, sich dem Guten angeschlossen zu haben, da es ihnen doch mit so edlen Worten und Affekten verkauft wurde: das reine Blut, die Volksgesundheit, der Opfermut, des Volkes Schicksalsgemeinschaft – all das war mit erhebenden Emotionen verbunden. Wozu der Rausch der Masse fähig ist, sehen wir heute noch bei jedem Fußballmatch: Man kann sich in die absurdeste Nationalbegeisterung einklinken, wenn es rundherum alle anderen tun.
Während in deinen früheren Büchern die Tradition der österreichischen Literatur stark spürbar ist, liest sich „Eisflüstern“ wie ein angelsächsischer Roman im besten Sinn. Hat sich deine Schreibhaltung generell geändert?
Die österreichische und die anglosächsische Literatur waren für mich gleichermaßen prägend, die österreichische bis zur Matura, die anglosächsische danach aufgrund meines Übersetzerstudiums und meiner Zeit in den USA und in England. Die traditionelle Unterscheidung, nämlich österreichisch = sprachbetont, anglosächsisch = narrativ, sehe ich nicht ganz so. Ich finde auch die Kunst des Narrativen in Franz Werfel oder Joseph Roth und die des Sprachbetonten in Sylvia Plath oder Alan Ginsbergh. Wie viele meiner Kollegen war ich irgendwann sehr genervt von der medial ständig wiederholten Behauptung, deutschsprachige Autoren, insbesondere deutschsprachige weibliche Autoren könnten nicht erzählen, und ich bin bei diesem Buch angetreten, das Gegenteil zu beweisen.
Fiel es dir schwer, schreibend in die Männerrolle zu schlüpfen?
Wie weit mir das gelungen ist, muss natürlich die p.t. männliche Leserschaft beurteilen. In den 80er-Jahren gab es sehr viel, zum Teil berechtigte Kritik an der beträchtlichen Zahl literarischer Frauenfiguren aus männ¬licher Feder, die das Wissen um einen authentischen weiblichen Blick vollkommen verstellte. Der Umkehrschluss war natürlich heikel: Wenn Männer nur mehr über Männer schreiben sollten, dann durften Frauen folglich nur mehr Protagonistinnen beisteuern. Auf die Spitze getrieben hieße das, ein dreißigjähriger Wiener dürfte nur mehr über dreißigjährige Wiener schreiben, eine achtzigjährige brasilianische Ärztin nur mehr über achtzigjährige brasilianische Ärztinnen etc., also jeder nur über sich selbst.
Im Grunde muss sich natürlich jeder Autor auch in eine fünf Stunden alte Maikäferlarve einfühlen können, wenn es notwendig ist. Schwierig war es auf jeden Fall, sich in einen Menschen aus einer völlig anderen Zeit einzufühlen und ihn nicht zu sehr zu idealisieren.
Die Tatsache z.B., dass Beck und seine Frau Marianne ihre Tochter nicht schlagen, ist durchaus aus revolutionär zu bezeichnen – damals galt Schlagen als absolut notwendiger Erziehungsbestandteil. Dabei bin ich von der Hoffnung ausgegangen, dass es in jeder Zeit Menschen gibt, die den Wahnsinn des sie umgebenden Regelwerks durchschauen. Es hat mich aber große Mühe gekostet, Beck zwangsläufig töten zu lassen, selbst eigene Kameraden. Ich habe mich bei den Kriegserinnerungen sehr an einem Werk von Jonathan Shay orientiert, Achilles in Vietnam, das analysiert, dass das Kriegstrauma vor allem bei jenen Soldaten sehr groß ist, die sich zu absoluten Bestialitäten hinreißen haben lassen, zum Vergewaltigen und Töten von Frauen und Kindern zum Beispiel. Davor habe ich Beck also zurückschrecken lassen, da ich wollte, dass er doch halbwegs heil wieder zurückkommt – um dann erst von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Im Grunde kann ich natürlich viele ethische Fragen an mir selbst abhandeln: Mit 18 war ich mir sicher, dass ich mich eher töten lassen würde, als jemanden anderen zu töten. Heute, da ich ein Kind habe, bin ich mir nicht sicher, ob ich mich nicht jeglicher Diktatur unterwerfen würde, um das Leben meines Kindes zu retten.


Anton Thuswaldner in den Salzburger Nachrichten, 17. Februar 2007:
Mit Bettina Balàka ist nicht zu spaßen. Früher schrieb sie Literatur, die aus dem Geist der sprachkritischen Tradition kam und das Feingewicht der Wörter abwog. Jetzt hat sie sich zu einer handfesten Erzählerin gewandelt, die aus dem Staunen nicht herauskommt, was sich in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Österreich abgespielt hat. Sie verbindet Recherche in den Archiven der Zeitgeschichte mit der Lust, eine Spannungsgeschichte zu erfinden, um das Klima einer untergegangenen Epoche im Treibhaus noch einmal erstehen zu lassen. Ein Heimkehrer, der aus den Dramen, die der Erste Weltkrieg in der Gesellschaft angerichtet hat, nicht mehr herausfindet, kommt zurück nach Wien und trifft veränderte Verhältnisse vor. Eine neue Zeit, in der der Antisemitismus auf seine große Chance lauert, kündigt sich an, und die Monarchie, aus dem Gedächtnis noch nicht entschwunden, wirkt nach in den Seelen der Menschen. In dieser Zeit des Umbruchs erregen Mordfälle Aufsehen. Es sieht so aus, als ob die Vergangenheit nicht abgestorben wäre, sondern unbedingt in die Gegenwart ausstrahlen möchte.

Marie-Claire Jur in der Engadiner Post, 15. März 2007:

90.000 neue Bücher kommen alljährlich im deutschen Sprachraum heraus. Über diese Flut von Neuerscheinungen jeweils einen Überblick zu gewinnen und die Spreu vom Weizen zu trennen, ist selbst für professionelle Leser wie Buchhändler, Bibliothekare und Literaturkritiker ein Ding der schieren Unmöglichkeit. Desto mehr schätzen Büchernarren Orientierungshilfen wie sie Literatur-Talkshows in den Medien anbieten.
Aufschluss über Trends im aktuellen Büchermarkt und persönliche Lese-Tipps zum derzeitigen Buchfrühling gabs vorgestern auch in St. Moritz im Hotel Laudinella. In der hoteleigenen Bibliothek hatten sich ein paar dutzend Zuhörer eingefunden, Hotelgäste und Einheimische, die von Berufs wegen viel mit Büchern zu tun haben. Sie alle waren neugierig auf die Lektüre-Empfehlungen von Monika Schärer und Urs Heinz Aerni. Sie eine begnadete Fernsehmoderatorin von SF-Kultur- und Reisesendungen wie «neXt» und «einfachluxuriös»), er der Präsident der Vereinigung der unabhängigen Kleinbuchhandlungen Schweiz und des Literarischen Clubs Zürich. (...)
Unbedingt «antun» sollten sich Leseratten mit viel Leselust gemäss den beiden «Laudinella-Literatur-Päpsten» noch weitere Werke wie beispielsweise «Der schwarze Schirm» (Hanna Johansen), «Melnitz» (Charles Lewinsky), «Abspann» (Steve Tesich), «Eisflüstern» (Bettina Balàka), «Bibliomania» (Steven Gilbar, Christian Detoux) oder die gesammelte Prosa von Loriot.

heute. Das Neueste am Abend, 19. März 2007:
Wieder ins Leben finden
Wien. Nach dem Ersten Weltkrieg. Balthasar Beck kommt nach seiner langjährigen Gefangenschaft als Soldat an seinen Wohnort zurück. Was er in der Zeit seiner Gefangenschaft sehen und erleben musste, hat sein Innerstes erschüttert: Gemetzel, Greuel, die Bestie Mensch. Nun will der ehemalige Kriminalkommissar – bei Frau und Kind – abermals in seinem bürgerlichen Leben Fuss fassen. Nicht lange, und er muss einen Fall mit mehreren Ermordeten aufklären. Der Mordfall hängt gar mit seiner Kriegsgefangenschaft zusammen. Autorin Balàka gelingt es aufs sorgfältigste, in ihrem Roman eine Atmosphäre zu schaffen, den Leser in eine für ihn fremde, weil längst vergangene Zeit zu entführen, schildert mit fast ironischem Unterton die tragischen und grässlichen Ereignisse des Krieges. Eine Frage bleibt: Warum schreibt eine junge, 40-jährige Autorin ausgerechnet über eine Epoche, die nicht nur längst vergangen, sondern auch vergessen ist? Vermutung: Weil sie es kann.

Werner Schandor in schreibkraft. Das Feuilletonmagazin Nr. 14, Frühjahr 2007:
http://schreibkraft.adm.at/ausgaben/14-patient-spezial/im-osten-viel-neues

Dieter Braeg im Stadtmagazin Krefeld und Mönchengladbach, Mai 2007:
http://www.stadtmagazin.de/literatur/Spaete-Heimkehr/3261.html

Kleine Zeitung, 17. Februar 2007:
AUFGEBLÄTTERT
Gleich mehrere erfreuliche Nachrichten für Bettin Balàka, der mit "Eisflüstern" (Droschl) einer der besten Romane des vergangenen Jahres zu verdanken ist. Sie erhält das mit monatlich 1500 Euro dotierte Canetti-Stipendium, über eine Übersetzung des Romans ins Französische wird verhandelt, über eine eventuelle Verfilmung intensiv nachgedacht.

hinauf