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Unter Jägern

Sabine Treude auf www.prairie.at , 20.März 2003:
http://www.prairie.at/artikel/20030320223413

Margit Tõnson im Eesti Ekspress, 2. Nov. 2006 (Übersetzung aus dem Estnischen: Katrin Kaugver)
Bettina Balàka: “Unter Jägern”
Bettina Balàka gehört zu den wichtigsten Namen der österreichischen feministischen Literatur, doch hat man sie wesentlich weniger übersetzt als die heftige Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Ja, Balàka ist in gutem Sinn milder sowohl im Ton als auch in ihren Themen, dies wird jedoch kompensiert mit psychologischem Scharfblick und Untergrabungen im tiefen surrealen Dickicht des “Frauentums”, in welchem sich zu verirren nicht beängstigend, sondern erlebnis- und gar genussvoll ist.

Balàka hat wohl einen unendlich tiefen Glauben an das geschriebene gesprochene Wort, dennoch kann man nicht von großer Ehrfurcht diesbezüglich sprechen. Wie ein Kind spielt sie mit dem Wort und den Bedeutungen. Das beste Beispiel zu solch surrealen Metamorphosen ist die Novelle “Unter Jägern”, in dem sich die Ich-Erzählerin (eine Frau) ohne weiteres zu einem Wolf in der Höhle, einem Raubvogel am Firmament, einem Schützen und einem Beutetier usw. verwandelt.

Balàkas Frauen sind schizophren, in ihnen kämpfen zwei unversöhnliche Gegensätze – der eine ist die Vorstellung der Frau selbst, was sie ist oder sein könnte, der andere die Erwartungen des Systems (des Mannes, des Staates, des Kindes, der Schwiegermutter etc.) an sie. Der Wunsch, alle diese Erwartungen zu erfüllen und sich selbst dabei nicht zu verlieren verursacht eben Psychosen und Neurosen, dies scheint die Schriftstellerin zu beweisen. Doch niemand beginnt zu rebellieren, oder springt aus dem Fenster, man versucht eher das System mit einer äußerlichen Perfektion zu täuschen. Eigentlich sei ja ohnehin nichts los. (Übrigens, Vikerkaar veröffentlichte ihr Essay “Messer”, wo sie das Aufeinanderprallen des Selbstbildnisses einer modernen Frau und der fordernden Ansprüche der Gesellschaft im Messer eines Schönheitschirurgen gegenüberstellt).

Die Kurzgeschichte „Als ich Mutter wurde“, die auf offiziellen Dokumenten des Bürokratieapparates basiert, könnte ein gutes Szenarium für ein Ken Loach ähnliches Werk des Dokumentarrealismus liebenden Regisseurs sein. Da rüttelt der Staat (das System) mit Lust die wackelige Schraube der unvollständigen Familie vom Triebwerk los und nimmt der arbeitenden Mutter das Kind endlich weg. Da der Staat ja besser weiß, was für das Kind gut ist. Jedenfalls sieht Balàka auch im Paarleben nichts anderes als eine Verschwörung, die die Frau an das Kirche-Küche-Kinder-Rad zu fesseln versucht. Und die Konsumwelt bringt das Ganze noch in Schwung.

Carola Ebeling in der EMMA, Mai/Juni 2003:


„ Ich war nie verwegen, so sind meine Wege vergangen“, sagt eine der Frauen im vierten Erzählband „Unter Jägern“ von Bettina Balàka. Aber dieser zweifelnd resignative Ton ist nur ein Aspekt. Wie schon in ihren anderen Büchern spürt die Österreicherin den (Über)Lebensversuchen ihrer weiblichen Figuren nach, die nie zu einer klaren Lösung führen.
Auch nicht für die namenlose Ich-Erzählerin, die in „Weg auf Steinen“ alleine nach Kreta aufbricht, der Insel, die „ein brennender Stein im Gedächtnis“ werden soll. Denn bald wird eine Operation ihr das Reisen, überhaupt jede Fortbewegung, auf unbestimmte Zeit unmöglich machen.
Der weibliche Körper als Schlachtfeld ist ein zentrales Motiv Balàkas. Wenn der Unterleib also „nun ein schmerzendes Loch (ist), entbeint bis zu den Hüften, in das nichts weiter als Schmerz, Titanschmerz fallen kann“, dann ist gleichzeitig von der Freiheit des Gehens überhaupt die Rede, von der Wahl der Richtung(en), der Möglichkeit von Bewegung im Leben.
Im Blick der von Schmerzen geplagten Ich-Erzählerin zeigen sich Risse in der Insel-Idylle: ein brutal hingemeuchelter Hund, von Maden zersetzt, steht für Gewalt und für Schrecken, die vor dem Urlaubsparadies nicht Halt machen. Das Außen gerät zur Spiegelung ihres Inneren, wenn sie „Bäume mit versengten Häuten und Herzen“ sieht, „dazwischen verkohlte Zacken, [...] Grabsteine, Denkmäler.“
Einsamkeit wird spürbar, Sehnsucht nach etwas Unbestimmten, „das werden hätte können, sein hätte müssen.“ Dennoch: Sie ist aufgebrochen – obwohl und gerade weil das Gehen ihr so schwer fällt. Und sie ist alleine aufgebrochen. Wie alle Frauen Balàkas. Egal, wie gehetzt sie sind, wie verängstigt oder verletzt.
So auch Carla in der Titelgeschichte. Sie fährt mit ihrem Lebensgefährten Bus. Er steigt aus. Sie bleibt einfach sitzen. So gerät sie an einen neuen Ort, in ein anderes Leben, geht fort, indem sie nicht mehr mitgeht. Doch gerät sie auch unter die „Jäger“. Lief sie schon in der Stadt mit „hochgezogenen Angst-Schultern“ herum, so ist sie hier, auf dem Land, zum Abschuss freigegeben. Da sie sich nicht dem Schutz des einen – Jägers, Mannes – unterwirft, wird Carla, die darauf besteht, allein zu sein, zur potenziellen Beute aller. Gefährlich ist das allemal, da sollte sie „lieber zu Hause bleiben, besonders in der Dämmerung, oder mittags, oder nachts, denn man weiß nie, wann der nächste Schuß fällt.“
Immer sind es Geschichten von eigenständigen Frauen, doch immer werden ihre Begrenzungen und Schranken sichtbar – etwa wenn die alleinerziehende Mutter in die fürsorgenden Fänge des Staates gerät, der sie als „Selbstmordversucherin“ abstempelt. In den sieben Erzählungen verwebt die Autorin ihre zentralen Themen miteinander: die vergebliche Suche nach der Erinnerung, die Sehnsucht nach „Jemandem“, der Körper als unhintergehbarer Erfahrungsort.
Leicht und oft surreal wirkt Balàkas Erzählweise, mit der sie sehr konkrete brutale Gewalterfahrungen und Verletzungen beschreibt. Eine irritierende Verbindung, aus der ihr sehr eigener Tonfall erwächst. Den sezierenden Blick mit einer poetischen Sprache zu verbinden, ist ihre hohe Kunst. „Wäre da nur jemand. Jemand, der Vertrauen hat zu seiner Schlafstätte, der sich fragt, ob die Träume in das Bettzeug sickern, in die Matratze, das Bett? Ob man sie mit jedem Hineinlegen wieder einatmet, als Erinnerung, fern und ewig gespeichert? Der sich solche Fragen stellt.“


Bernhard Fetz in der Neuen Zürcher Zeitung, 19. April 2003:

Gegen die Selbstverstümmelungen von Frauen, die sich gemäss einem medial durchgesetzten Schönheitsideal zurichten lassen, richtet sich Bettina Balàkas polemischer Essay „Messer“ (1999): „Und niemand kann oder will es sich dazudenken, das Bild hinter den Bildern, auf dem die Frau aufgeschnitten und blutig auf dem Chirurgentisch liegt.“ Um Inszenierungen von Weiblichkeit und mögliche Formen selbstbestimmter Entwürfe ging es auch im Roman „Der lang angehaltene Atem“ (2000), einem Patchwork aus Briefen, Reflexionen, Geschichten zu den Themen Kunst, Liebe und Geschlecht.
Bettina Balàkas Metier ist die Erzählung. Hier lassen sich Erzählmuster und Sprechweisen durchspielen, konfrontieren, auch erproben, ob sie zur Selbstvergewisserung von Frauen taugen; hier lässt sich zudem zeigen, wie Ironie, Polemik und Innerlichkeit zusammengehören. Die 1966 in Salzburg geborene und in Wien lebende Autorin schreibt im Bewusstsein einer sprachlich artifiziellen, polemischen Kritik, wie sie die Texte Elfriede Jelineks repräsentieren, und Auge in Auge mit den publikumskompatibleren Produkten der sogenannten Popliteratur. Dazwischen sucht sie eigene Formen für Erfahrungen, die weiter reichen als die Selbstbezüglichkeit vieler aktueller, „schneller“ Texte. Sehr viel verhaltener als im Essay und stringenter als im Roman geht es im mittlerweile dritten Band mit Erzählungen in sieben Geschichten um sieben Frauen.
Am besten sind die Geschichten dort, wo sie ganz sachte aus der Normalität kippen: Ein Paar, das die Euphorie des Anfangs hinter sich hat, sieht sich vor die paardynamisch wichtige Aufgabe gestellt, die Wochenenden mit Aktivität zu füllen. Ob sie sich vielleicht nicht einmal berühren könnten, anstatt ruhelos die Gegenden zu durchstreifen, will die Frau wissen. „Ein andermal, heute nicht“, antwortet Hannibal, der Mann und Feldherr, der auf seinem langen Marsch über die Alpen in Pantoffeln stecken geblieben ist. Das Paar fährt in eine abgelegene Waldgegend; als sie uneins darüber sind, an welcher Haltestelle der Bus verlassen werden muss, steigt die Frau einfach aus und befindet sich – „unter Jägern“. Sie nimmt sich ein Zimmer und bleibt, alleine die Wälder durchstreifend: „So also war ihr Hannibal abhanden gekommen, aber der Tag nahm keinen schlechten Anfang.“
Der Kipppunkt der Titelerzählung ist nicht leicht zu finden. Es geht schleichend, und das liegt an der Sprache. Sie ist tastend poetisch, ironisch-lakonisch, bald hermetischer, bald einladender. Raum und Zeit sind stets unbestimmt, wenn auch nicht gänzlich unvertraut. Dabei wird in allen Erzählungen ein Thema variiert: Frauen finden sich in mehr oder weniger verschobenen alltäglichen Situationen wieder, erfahren sie neu, anders, intensiver. Wie Carla in „Unter Jägern“ den Wald, der etwas Bedrohliches und etwas Befreiendes zugleich hat, dafür sorgt das ironisch gewendete Jägerlatein in der Erzählung. Die Männer bewegen sich am Rande des Blickfeldes. Sie sind keineswegs monströse Wesen, sie werden herbeigewünscht und sind doch wieder die alltäglichen Durchschnittstyrannen, von der Schwiegermutter gegen die Nebenbuhlerin aufgehetzt, träge in der Sonne liegend, wo weiblicher Erfahrungshunger das Weite sucht.
Wenn es einmal der aktivitätssuchende Hannibal ist, der die Frau schliesslich vertreibt, ist es in „Die Ruine, das Tor, der Schlüssel und das Schloss“ die Trägheit des Freundes, wodurch das Desinteresse an weiblichen Bedürfnissen ausgedrückt wird. Ein harmloser Ausflug endet im Stile der düsteren „gothic novels“. Was die Erzählerin befürchtet, passiert auch: Die Freunde werden von einem hünenhaften Burgführer in einem finsteren Verlies eingeschlossen. Zurück bleibt allein wieder die Frau.
Es ist nicht immer einfach, einen Leseeinstieg zu finden. Die Erzählungen fordern genaues Lesen, überstrapazieren den Schwebezustand, den sie herbeiführen wollen, auch manchmal durch zu forcierte sprachliche Bemühungen. So spielen Träume, Surreales oft eine Rolle. Der erste Satz der ersten Erzählung im Band lautet: „Barbara erwacht in einer chopinblauen Suppe.“ Jeden Tag erwacht Barbara in einer neuen Umgebung. Vielleicht weigert sie sich einfach, aufzustehen, das Alltägliche zu tun. Stattdessen vollführt sie kleine Bettfluchten, die sie nach innen führen. Was schliesslich bleibt, ist die Gewissheit des eigenen Körpers.
Regression und Ausbruch liegen eng beieinander. Dies sprachlich und inhaltlich in der Schwebe zu halten, gelingt nicht immer. Dabei ist das Risiko in den sogenannten poetischen Erzählungen grösser als in den eher schnelleren, von einem ironischen Grundton getragenen. Da kommen zu viele verlassene Räume, zu viele Telefone vor, deren Klingeln unbeantwortet verhallt. Da ist es zu offensichtlich kalt und unbehaust.
Die Erzählung „Weg auf Steinen“ handelt von einer nicht mehr jungen Frau, die nochmals Kreta-Ferien unternimmt, bevor sie sich einer schweren Hüftoperation unterzieht. Man kann dies als Metapher auf den mühsamen, selbstbestimmten weiblichen Gang lesen, man muss aber nicht. Wichtiger ist die Konzentration auf das „Sehen, berühren“, auf die Registratur von Wahrnehmungen. Das schliesst das aggressive Pamphlet jedoch nicht aus. In „Als ich Mutter wurde“ geht es um eine Frau, der von den staatlichen Instanzen in terroristischen Akten der vermeintlichen Fürsorge das Kind weggenommen wird, ohne Rücksicht auf ihre berufliche und private Situation, ohne Rücksicht darauf, dass sie ihr Leben eigentlich im Griff hätte.
In ihren besten Momenten bewegen sich die Erzählungen Bettina Balàkas auf jener Linie, die zwischen der Normalität, die sie ständig abrufen, vor der sie sich entfalten, und der Entrückung beziehungsweise dem Ausbruch hindurchführt.


Sabine Treude im Mostviertel-Basar Nr. 103, 8. April 2003:

Unter Jägern – heißt das neue Buch der jungen österreichischen Autorin Bettina Balàka. Es versammelt sieben Erzählungen, in denen das Alltägliche und das Sonderbare bis hin zum Skurrilen aufeinandertreffen. In allen Erzählungen geht es um Frauen an einem teilweise herbeigesehnten und gefürchteten Wendepunkt und darum, die daraus erwachsenen Brüchigkeiten zu erzählen. Neben den Bruch- und Schnittstellen liegt das, was das Buch darüber hinaus so besonders lesens- und empfehlenswert macht, in einer Sprache begründet, die, die Inhalte subtil begleitend, stets auf dem Sprung zu sein scheint, vorauszueilen und gleichzeitig innezuhalten. Balàkas Sprache verleiht den eh schon seltsam anmutenden Geschehnissen, denen sich die Protagonistinnen ausgesetzt sehen oder aussetzen, durch ihre spielerische Präzision und Sorgfältigkeit im Detail einen zusätzlichen Schwung ins Unheimliche.
Allerdings ist das Unheimliche selten dort auszumachen, wo es vermutet wird, sondern entpuppt sich als fester Bestandteil des Alltäglichen selbst.


Helga Pankratz im WeiberDiwan, Frühjahr 2003:

Barbara, die keine Spuren in der Welt hinterlässt und schon viele Tage jeweils vom einen zum nächsten Tag/Mann/Haus gelebt hat. Karin, die jung ist und frisch verliebt die stille Zeit der Zwischensaison in einer stark vom Tourismus geprägten Region auskostet. Carla, die beim Sonntagsausflug aus der Zweierkiste herausfällt wie ein Vogel aus dem Nest und sich in der Folge als flügge erweist: in ihren großteils zwischen 1998 und 2002 in Literaturzeitschriften bereits einzeln veröffentlichten Kleinoden der Erzählkunst beschreibt Bettina Balàka vor allem das Gehen, das Ergehen von Frauen. Sie schildert die Räume, durch die ihre Protagonistinnen sich bewegen mit der ihr eigenen Stil- und Zielsicherheit: „walking, walking, die Bäume, die Büsche, das Gras.“
Besonders deutlich tritt dieses Motiv in „Weg auf Steinen“ hervor, der längsten der sieben Geschichten. Eine Urlauberin auf Kreta wandert hier ganz intensiv, um ihre – noch – vorhandene Beweglichkeit bis an die Schmerzgrenze zu genießen. Ein wenig anders präsentierten sich die drei übrigen Geschichten: zutiefst feministisch die Zitate-Collage „Als ich Mutter wurde“, und ein bisschen gruselig die beiden letzten. Der gediegenen Sprache Balàkas wegen aber sind auch diese vor allem anderen (wunder)schön gruselig.


Helmut Wolfgang in den Salzburger Nachrichten, 4. Jänner 2003:

In den neuen Erzählungen der Salzburger Autorin Bettina Balàka geht es um Frauen ohne Männer. In den sieben bisher großteils in Literaturzeitschriften veröffentlichten Geschichten spielen Männer bestenfalls Nebenrollen. Sie kommen in der Erinnerung vor oder als Staffage. Häufig geht von ihnen eine unbestimmte Bedrohung aus wie in der Titelgeschichte.
Carla verliert bei einem Ausflug ihren Begleiter aus den Augen, der Bus
bringt sie an einen abgeschiedenen Ort. Dort gibt es keine Schonzeit, für
das Wild ebensowenig wie für die Frauen. "So aber sollten Sie lieber zu
Hause bleiben, besonders in der Dämmerung, oder mittags, oder nachts, denn man weiß nie, wann der nächste Schuss fällt", warnt sie der Oberjäger. Wie in früheren Texten geht es Balàka weniger um das Erzählen von Geschichten, sondern um die Beschreibung von Zuständen und Befindlichkeiten. Die Autorin spinnt komplexe Gewebe aus Eindrücken, Erinnerungen, Wünschen und Ängsten - kombiniert mit scharfer Beobachtung und sprachlicher Analyse.
Nur vereinzelt sind wie zufällig auch Handlungssplitter eingeflochten.
Eine Frau erwacht jeden Morgen in einer anderen Wohnung und macht die
Erfahrung, "was bleibt, ist der eigenen Körper". Eine andere Frau verbringt allein einen Urlaub auf Kreta, bevor sie sich einer riskanten Hüftoperation unterzieht. Sie wollte noch einmal auf schwierigen Wegen gehen. Aufmerksame Beobachtungen von Landschaft und Menschen, Einheimischen und Mittouristen, Gedanken übers Alleinsein: ("Wenn man allein ist, wie viel man da mit Verkäuferinnen und Kellnern, mit Restaurantbesitzern und Ladenbesitzerinnen bespricht").
Eine junge Mutter erlebt die staatliche Fürsorge und Betreuung nach der
Geburt ihres Kindes als totale Vereinnahmung. Die Einflussnahme geht auch nachts weiter: "Wenn das Kind ganz tief schlief, kamen die Privatstimmen, die Stimmen des Volkes und der Nachbarn, die Stammtischstimmen und die Straßenstimmungen, die besseren Meinungen und die genauen Gerüchte. Der Staat von innen heraus". Die beiden letzten Geschichten des Bandes verraten eine Faszination für spannungsgeladene Erzählungen im Stil eines H. G. Lovecraft.
Wie in früheren Werken der Autorin ist auch hier die Sprache die eigentliche Protagonistin in einer meist als lebensfeindlich erlebten Umwelt. Balàka vermeidet ausgetretene Sprachrouten, bahnt sich lieber Wege durch das wortreichere Unterholz.


Marin Reiterer in Buchkultur Sonderheft Buchwoche 2002:

Mit subtiler Ironie und poetischer Kraft schafft Balàka Raum für Wahrnehmungen und Selbstwahrnehmungen ihrer Frauenfiguren.


Jutta Kleedorfer in bn.bibliotheksnachrichten 4/2002:

Das dem Erzählband vorangestellte Motto "At night, alone, I marry my bed" weist schon auf das durchgehende Leitmotiv des Allein-Seins, des Allein-gelassen-Werdens, aber auch auf die Chance des Allein-Bestimmens hin. In sieben kurzen Geschichten begegnet man Frauen, die sich in Grenzsituationen befinden, die ein eigenständiges Reagieren not-wendig machen - im wahrsten Sinn des Wortes.
Eine Frau verbringt vor einer Hüftoperation Ferien auf Kreta und reist, sich und die fremde Umgebung genau registrierend, über die Insel. Eine andere bricht aus der Stadt und dem Ehealltag aus und befindet sich unversehens mitten in der Idylle des Landlebens "unter Jägern". Eine andere namens Barbara verbringt ganz unspektakulär einen Tag allein mit sich in ihrem Zuhause und alles wird fremd. Eine alleinerziehende Mutter gerät in die Zwänge des modernen Sozialstaats, dessen "Segnungen" zu einem Fluch für Mutter und Kind werden. Aus einem Sicherheitsnetz wird eine Zwangsjacke, aus einer gemütlichen Ehe wird ein Fangnetz von Ritualen, Alltagshandlungen und Gewohnheiten werden in ihren tradierten Formen plötzlich brüchig und führen - wie in der letzten Erzählung - bildlich gesprochen in den seelischen Hungerturm oder ins geistige Verlies.
Sieben Frauen erleben aus sieben unterschiedlichen Perspektiven und Situationen die gesellschaftlichen Grenzziehungen, nehmen diese aber als Möglichkeiten eines Aufbruchs zu neuen Ufern wahr. Sie erleben eine Bewusstseinsveränderung insofern, als dass es ihnen zumindest ansatzweise gelingt, aufgezwungene Lasten und Verpflichtungen abzuschütteln, traditionelle Rollenklischees abzustreifen und neue Lebensperspektiven zu gewinnen. Diese persönlichen Veränderungen werden sorgfältig und genau registriert und in einer fast minutiös gestalteten, radikal die Dinge beim Namen nennenden Sprache beschrieben. Die Distanz und Kühle der Erzählerin gegenüber ihren Figuren lässt dem Leser Raum für eigene Empfindungen und Überlegungen, das bedeutet aber auch, dass diese Erzählungen keine leicht zu konsumierende Lektüre sind, sondern mit jedem Satz eine Herausforderung an die Bereitschaft des Lesers, sich einzulassen, mitzufühlen und mitzudenken, darstellen.


Hubert Lengauer in kolik 20/2002:

"Barbara erwacht in einer chopinblauen Suppe", so beginnt die erste Erzählung dieser Sammlung, aber der Satz könnte programmatisch für den ganzen Band stehen. In allen Erzählungen rührt Bettina Balàka solche "Textsuppen" an, das ist gar nicht despektierlich gesagt, wie denn überhaupt die Herstellung guter, nahrhafter Suppen eine schöne Kunst ist. Man könnte es freilich auch nobler, ätherischer ausdrücken: Bettina Balàka versteht es, Schwebezustände herzustellen, in denen die üblichen Ordnungen der Erzählung, die Kategorien von Raum und Zeit, aufgehoben sind oder weitgehend zurücktreten. In diesen "Suppen" bewegen sich die "alleinstehenden" Frauen (wie man üblicherweise sagen würde) als allein schwimmende, rudernde, auf- und untertauchende, nicht immer in aufrechter Position befindliche (darauf verweist das Motto der Erzählungen: "At night, alone, I marry the bed", von Anne Sexton). Freilich braucht diese Form der Erzählung den breiten Hintergrund des Normal-Erzählens, und was den Leser vorwärts treibt, ist nicht zuletzt die Suche nach den Tröstungen der Normalität, eben jener vertrauten Kategorien des Neben- und Nacheinander, des "Es war einmal, und dann ..." usw., wie es uns als Grundmuster in die literarischen Kinderstuben geleuchtet hat. Die Normalität ist aber nicht immer tröstlich, das muß eine Frau "Carla" erfahren, die ihrem Mann "Hannibal" ("nachdem sie sich zusammengeliebt hatten und er in einen ekstatischen Rausch der Gleichgültigkeit verfallen war") auf einem Wochenendausflug entkommt, aber mehr vom Regen in die Traufe, sie findet sich in einem Dorf wieder und "unter Jägern", die sich um sie (als eine Art herrenloses Gut) Sorgen machen. Nein, es passiert schon nichts, die Erzählung bleibt offen, nur im Märchen brechen sich Frauen, die selber die Jagd betreiben, das Genick und reiten dann bei der Wilden Jagd mit. In der Wirklichkeit haben die Jäger einen besseren Ruf als in der Literatur (man denke an Th. Bernhards "Auslöschung"!), und die Jägerinnen werden, Gott sei Dank, ORF-Generaldirektorinnen oder leiten eine Jagdhornbläserinnengruppe wie Frau Claudia Haider. Hier, in der Erzählung, ist es aber anders, das schwebende Verfahren zwischen Frauen und Männern verfestigt sich nicht in Verhältnissen, die Frau Carla bleibt am Leben und am Sinnieren, die Sorgen der Jäger bleiben besorgniserregend. Nicht immer freilich bleibt Bettina Balàka gruselig (so wie hier oder in "Die Ruine, das Tor, der Schlüssel und das Schloß", wo Leute in düstren Verliesen verschwinden), sie kann das Gruselige auch auf der bürokratischen Ebene der "alleinerziehenden Mutter" und ihrem Umgang mit den Behörden auffinden und als lästigen Übermut der Ämter beschreiben ("Als ich Mutter wurde"). Wenn bei einigen Erzählungen der Antrieb zur "schwebenden", "suppigen" Form im Versuch der Darstellung neuer, anderer Erfahrungen besteht, im Versuch eben, neu zu sehen, zu hören, zu schmecken (in "Weg auf Steinen" verändert eine bevorstehende Hüftoperation die Wahrnehmung der Kretareisenden), wird das zur handfesten satirischen Aggression. Man soll sie nicht unterschätzen, die Frau, die hier mit ihren Frauenfiguren zu Werke geht: Sie kann so, sie kann aber auch anders, ihre sprachliche Reichweite und ihre Wandlungsfähigkeit imponieren.


http://www.literaturhaus.at/buch/buch/rez/balakaunterjaegern/


treffpunkt, Das Büchermagazin von Morawa & Styria, Herbst 2002:

Bettina Balàka stellt in ihrem neuen Erzählband das Leben jüngerer Frauen abseits aller Klischees dar, auch abseits aller feministischen Gemeinplätze. Ihr Blick ist manchmal wütend (etwa in der Erzählung über eine junge Mutter, die in die Mühlen der Fürsorge gerät), manchmal detailgenau diagnostizierend, und über vielen der Geschichten liegt eine Beklemmung, die schwer greifbar zu machen ist.


Evelyne Polt-Heinzl in Die Presse, 17. August 2002:

Klappentexte sind verlegerischen Werbeinteressen untertan, und markige Schlagwörter müssen nicht immer ganz genau dem Buchinhalt entsprechen. Im Fall von Bettina Balàkas neuem Erzählband "Unter Jägern" scheint aber doch eher eine Verwechslung vorzuliegen. Es seien Geschichten von Frauen, die ihr Leben meistern, und "fast immer geht es gut aus", heißt es da. Die Geschichten, die im Buch stehen, tun das - vielleicht mit Ausnahme der leisen Liebesgeschichte "Sehen, berühren" - eigentlich nie. Oder steckt Kalkül dahinter, weil sich heute nur Geschichten mit Happy-End verkaufen? Dann ist der Trick vielleicht gar nicht so schlecht, denn Balàkas Erzählungen, die meist zwischen 1998 und 2002 in Literaturzeitschriften erschienen sind, verdienen, Leser zu finden. Balàkas Ton ist verhalten und beunruhigend zugleich, die Sprache sparsam, mitunter auch lyrisch, keinesfalls martialisch, wie der Titel vermuten läßt.

Wie meist ist auch der Auftakt der Titelgeschichte ganz alltäglich. Ein durchschnittliches Paar, einst hat man sich "zusammengeliebt", nun gilt es, die Wochenenden "sinnvoll" zu füllen. Man kann die Museen der Umgebung aufsuchen oder Wanderungen "erbringen", die er - mit Namen Hannibal - "nach Wegzeiten und Wegstrecken" bemißt. Die Differenzen liegen also offen, bei einem Herbstwochenendausflug passiert es dann: Uneinigkeit über die Strategien, wo es den ländlichen Bus zu verlassen gilt, und wie zufällig verliert man sich. Carla fährt einfach weiter und landet in einem winzigen Bergdorf. Erstaunlich gelassen richtet sie sich da ein, zweifellos ist sie mit dem Ortswechsel nicht nur der Stadt entkommen.

Nur für die örtlichen Jäger stellen ihre Spaziergänge ein Problem dar. Deshalb, so der Oberjäger, wäre es gut, wenn ihr Mann käme. Der könnte Jäger werden, dann wüßte er immer die Zeiten und könnte Carla sagen, wann sie zu Hause bleiben soll, denn "man weiß nie, wann der nächste Schuß fällt". Die Jäger sind keineswegs bösartig oder gemein gezeichnet, die Metaphern der Jagdsprache, mit der Carla ihre Situation analysiert, haben allenfalls einen leisen, bedrohlichen Unterton. Es ist ein unaufgeregter Bericht über Rollback-Strategien in Sachen Frauenbewegung. Die Erzählhaltung ist distanziert, ironisch und in eine nächtige Atmosphäre getaucht, so selbstverständlich wird das Fremde und Absurde normalerweise nur im Traum hingenommen.

Ein Hauch von Surrealem liegt über den meisten der Geschichten. "Barbara erwacht" ist ein Bericht von einer Frau, der jede Lebenskontinuität und Verankerung abhanden gekommen ist. Jeden Tag erwacht sie in einer anderen Realität, in einer anderen Umgebung. "Was bleibt, ist der eigene Körper", ist der repetitiv wiederholte Satz. Unausgesprochen ist da eine stringente Analyse aktueller Befindlichkeit hineinverpackt: Der eigene Körper gewährt eine gewisse sinnliche Sicherheit in einer immer abstrakteren Welt. Dort, wo Erfahrungen aus zweiter Hand dominieren, wird der Körper zu einem letzten Hort der Authentizität und Selbstvergewisserung, dem in Fitneßcentern und Ayuvedastudios kultische Aufmerksamkeit zukommt.

Surreal endet auch die letzte Erzählung des Bandes, "Die Ruine, das Tor, der Schlüssel und das Schloß". So unzeitgemäß wie der Titel ist auch das Ende der Geschichte. Was als harmloser, unlustig unternommener Urlaubsausflug in der Schwüle der Hundstage begann, endet für die beiden Paare im Verlies der eben besichtigten Burg. Wie selbstverständlich und der einzig möglichen Logik folgend, sperrt der geheimnisvolle Führer das seit Jahrhunderten bruchfeste Tor hinter ihnen zu.

Sehr diesseitig, wenn auch voll dichter Todessymbolik, hingegen die Prosaskizze "Weg auf Steinen", eine Art sinnliches Tagebuch eines Kreta-Urlaubs. "Ich war nie verwegen, so sind meine Wege vergangen", und daher sucht die Ich-Erzählerin nun nach einer besonderen Intensität des Sehens und Wahrnehmens in der fremden Umgebung. Wie alle Geschichten des Bandes schreiben die detailreichen Beobachtungen auch an gegen die Phantasielosigkeit von Sprachstereotypen, wo "besonders kunstvoll gewachsene Bäume" stets "verkrüppelt" heißen.

hinauf