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Eisflüstern

Einmal geriet Beck auf dem Heimweg in eine Demonstration, die sich zu einem Aufruhr ausgewachsen hatte. Zwischen Parlament und Rathaus gingen ungeordnete Menschenmassen mit Gebrüll und zum Teil auch schon mit Fäusten aufeinander los. Kopfbedeckungen flogen durch die Luft, vereinzelte Frauen kreischten schrill. Die taumelnden, drängenden Leiber hatten Beck sofort mitgerissen und es kostete ihn einige Mühe, sich wieder aus dem Getümmel zu lösen und auf einen halbwegs sicheren Beobachtungsposten zurückzuziehen. Von allen Seiten stürmten Gruppen von Männern herbei, die sich in den Haufen warfen wie in einen Topf Gold. Beck hatte einen schmerzhaften Stoß gegen seine kaputte Schulter erhalten und die alte Verwundung brannte wieder in ihm hoch. Sein Herz klopfte. Er verspürte den Impuls, sich mit Wucht auf den Nächstbesten zu stürzen und ihn zu prügeln. Dann den nächsten Nächstbesten. Immer wieder rannte jemand gegen ihn, als wäre er unsichtbar. Als wäre er ein Geist, blickte ihn immer wieder jemand überrascht an, wenn er gegen ihn prallte, als hätte er dort, wo Beck stand, keinen Widerstand erwartet, nichts gesehen. Mit vorsichtigen Schritten wich Beck aus und beobachtete, wie andere einander niederrissen. Auf der Straße lagen großflächige Pfützen und wenn einer hinfiel und sich abstützte, versanken seine Hände bis zu den Gelenken im sandtrüben Wasser.

Beck lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Laternenpfahl und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Er hatte den Eindruck, „das Proletariat“ würde hier kämpfen, und befürchtete einen Moment lang, die Stürmung des Parlamentes oder des Rathauses stünde kurz bevor. Als er in der Masse ein von zwei Stecken gehaltenes Spruchband aufschwanken sah, versuchte er die darauf geschriebene Parole zu lesen, doch schon war es gestürzt und zwischen den Wütenden zertrampelt. Plötzlich bildete sich irgendwo ein kleiner Sprechchor, der „Juden raus!“ skandierte, aber schnell wieder auseinandergerissen und dadurch zum Schweigen gebracht wurde. Ein Mann ließ sich von einem anderen auf die Schultern nehmen, schüttelte die Faust und brüllte etwas, von dem Beck den Satzfetzen „fortzuführen den Kampf brutal und rücksichtslos“ aufzuschnappen glaubte. Er sah Polizisten, kopflos, mit rollenden Augäpfeln, und überlegte sich, ob er ihnen beistehen sollte, nun, da auch er wieder Polizist war, so gut wie, auch in der Wartezeit auf die Probezeit war man ja quasi, de facto, in spe Polizist. Da tauchten vom Volksgarten her andere Uniformierte auf, deren Uniformen Beck nicht einordnen konnte, er bekam Angst, es könnte sich um die „Rote Garde“ handeln, davon hatte er gehört, davon war in Russland gesprochen worden, eine „Rote Garde“ sei auch in Wien gegründet worden von Kisch, diesem Reporter, den er einmal im Café Central gesehen hatte gemeinsam mit Marianne. „Schau, da sitzt der Kisch!“ hatte sie gezischelt, mit Bewunderung, wie ihm schien, und er hatte sich darüber geärgert. Marianne bewunderte Zeitungsfritzen und Sänger und schwachbrüstige Kaffeehauskünstler und „herausragende Geistesgrößen“, und Beck ärgerte sich darüber, als er nach Atem ringend an den Laternenpfahl gepresst stand, noch immer, und dann brachen Revolutionen aus und Großreiche zusammen und man sah, wohin das führte, eine Rote Garde hatte die Geistesgröße gegründet, wenn es denn stimmte, was in Russland kolportiert worden war.

Vielleicht aber handelte es sich auch um eine Heimwehr oder Bürgerwehr oder einen Verband, von dem Beck noch nie gehört hatte, er wusste, wie schnell bewaffnete, uniformierte Verbände in diesen neuen Zeiten entstehen konnten, wie schnell man die Seiten wechseln konnte, wie plötzlich man für etwas kämpfte, für das zu kämpfen man nie geglaubt hätte – dann fielen plötzlich Schüsse. Schüsse fielen und man wusste nicht, woher, auch Männer kreischten nun, die vorhin aufeinander Stürmenden stoben nun auseinander. Pferde bäumten sich auf, direkt vor Beck stieg ein Polizeipferd mit einem Halsschuss in die Höhe, der Polizist darauf rutschte kläglich über das Pferdehinterteil hinunter, das Pferd kam noch einmal mit den Vorderhufen auf und krachte dann seitwärts zu Boden. Die Menschen schrien so laut, dass es Beck den Atem verschlug, das Geschrei schien ihm die Luft wegzublasen, dann standen sie stumm und zitternd um den großen, dunkelbraunen Leib, unter dem wie durch ein Wunder kein Mensch lag. Unter dem Hals des Tieres färbte sich die Pfütze in schnell größer werdenden Blutschlieren, dann war der Moment des Innehaltens auch schon vorbei. Einer stürzte sich mit gezücktem Messer auf das Pferd, um es aufzuschneiden, andere taten es ihm gleich, immer mehr mit Messern Bewaffnete tauchten auf und schnitten sich Stücke aus dem warmen Fleisch. Beck griff in seiner Rocktasche nach dem Klappmesser und wollte alle auseinandertreiben, sein Messer in den zarten Muskelstrang an der Lende des Pferdes versenken und sich einen Kavalierspitz herausschneiden, aber er blieb stehen und dachte an Ameisen, die einen Kadaver zerpflückten, und bald waren auch schon die Knochen des Pferdes zu sehen. Beck wusste, dass er ein Idiot war, sich hier kein frisches Pferdefleisch zu holen wie alle anderen, aber er blieb an seinem Laternenpfahl stehen. Jeder, der ein Stück Pferdefleisch ergattert hatte, rannte damit davon und hatte die Demonstration und seine politischen Forderungen vergessen, vielleicht hatte die Forderung ja auch nur in ein wenig mehr Pferdefleisch bestanden.

Der Polizist, der eben noch auf dem Pferd gesessen war, versuchte vergebens, einzelne Polizeipferdefleischdiebe aufzuhalten, ihnen das Fleisch abzunehmen, es zurückzulegen in den Kadaver des Tiers. Das erinnerte Beck wieder daran, dass er ebenfalls Polizist war, und als ein junger Bursche mit der tropfenden Leber des Pferdes an ihm vorbeiwischte, packte er ihn am Kragen. Der Bursche war vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt und blieb sofort wie angewurzelt stehen, als Beck ihn reflexartig am Jackenkragen festhielt. Das ist doch unglaublich, dachte Beck, ein russischer Junge hätte sich losgerissen und wäre weitergerannt. Diese Wiener, da herrschte tatsächlich noch der Metternichsche Geist. Eine Duckmäuserei, eine Feigheit, die nach Ohrfeigen verlangte, ein Glaube an die Macht der Hand, die einen am Kragen festhielt, obwohl der Kragen ohne weiteres abgerissen wäre, hätte man sich nur weiterbewegt. Beck begann sofort, den Burschen streng zu befragen, er war Polizist, bald wieder und immer noch, und das Gefangenengefühl verging. Was glaube er denn, herrschte Beck den Burschen an, eine im Staatseigentum befindliche Pferdeleber zu stehlen – doch als der Bursche zu böhmakeln begann, wurde Beck unsicher in seiner Theorie, war denn das noch ein richtiger Wiener oder überhaupt Österreicher in diesem Restösterreich, er sprach sehr schlechtes Deutsch und presste eine fremdstaatliche Pferdeleber an seine magere Brust.

Beck führte ihn ab und übergab ihn der nächsten Wachstube, es war seine erste Amtshandlung nach dem Krieg, er konnte es nicht fassen, dass der böhmische Junge nicht einfach so schlau gewesen war, sich mit seiner Beute im Gewühl der Menge zu verdrücken. (Beck fragte sich noch tagelang, was denn wohl aus der beschlagnahmten Pferdeleber geworden war, und vermutete neidisch und wohl auch zu Recht, dass sie vom diensthabenden Wachebeamten im Kreise seiner Familie gebraten und verzehrt worden war. Welche Strafe der Junge wohl ausfassen würde? Vierzehn Tage, drei Wochen Arrest, schätzte Beck. Er träumte noch lange von der köstlichen, zu hauchdünnen Schnitzeln zerteilten Pferdeleber, zu der er einer unbekannten Wachebeamtenfamilie verholfen hatte, aß wütend die Graupensuppe mit Steckrüben, die Marianne kochte, und wusste, er hatte „das Richtige“ getan.)



Verlagsvorschau:

Wien 1922. Balthasar Beck kehrt entkräftet, aber – wenigstens körperlich – unverletzt ins heimatliche Wien zurück und sucht nach tagelangem Zögern endlich seine Familie auf. Er wird von grauenvollen Erinnerungen an die Gefangenschaft, die Gemetzel und die Gräuel des Krieges heimgesucht und hat Mühe, in sein altes Leben zurückzufinden. An seinem alten Arbeitsplatz bei der Kriminalpolizei sieht er sich mit rätselhaften, bestialischen Mordfällen konfrontiert, die mit den gerade vergangenen Jahren in Sibirien verknüpft zu sein scheinen.

In ihrem neuen Roman erweckt Bettina Balàka bis ins Vokabular hinein den entbehrungsreichen Nachkriegsalltag zum Leben. Nüchtern, minutiös, mit fast ironischem Unterton schildert sie die tragischen und grässlichen Ereignisse des Krieges. Eisflüstern besticht durch die Intensität und Genauigkeit der historischen Details: einerseits das Wien der frühen 20er Jahre, wo die gerade abgeschaffte Monarchie noch ebenso in den Köpfen spukt wie ein sich langsam radikalisierender Antisemitismus, andererseits die Welt der Lager weit im Osten, die Gefechte und Schlachten in den russischen Steppen, Krankheit, Hunger und Elend; das alles vereint sich in Balàkas distanzierter Betrachtung zu einem enorm kunstvollen Gesellschaftspanorama.

Fundierte Detailrecherchen machen aus der ohnehin schon spannenden Geschichte eine äußerst lesenswerte Studie über den Beginn der modernen Gesellschaften im frühen 20. Jahrhundert; die ungelösten Probleme – und moralischen Fehlentscheidungen – der Vergangenheit werden zu Störfällen des zivilen Alltagslebens. Nicht nur für die Wiener Kriminalpolizei...


Erscheint Ende August
Erstausgabe 2006
ca. 380 Seiten, 21x13 cm, gebunden
ISBN 3-85420-710-7
€ 24,-

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