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"Krankengeschichten"

Und dann sehe ich wieder diese indische Familie, die sich versammelt hat im Krankenhaus auf der Entbindungsstation, und die Mutter strahlt mit rotgeschminkten Lippen, endlich, nach drei Töchtern endlich ein Sohn, sie hat ihre höchste Frauenleistung vollbracht, und der Vater erklärt glücklich, nun erst fühle ich mich vollständig, in meinem Leben war immer eine Lücke ohne Sohn, er wird das Zentrum unserer Familie sein. Nur die drei Töchter schluchzen, ihre schönen Gesichter sind vom Weinen verzerrt, sie waren immer gut und gehorsam, tüchtig im Haus und in der Schule brilliant, die Älteste wird bald studieren, wenn man nicht vorher eine Heirat arrangiert. Doch wie sehr sie sich anstrengen mögen, sie verblassen, sie verschwinden neben diesem plärrenden Säugling, der einen Pimmel trägt, sie sind wertlos geboren und für immer nichts wert. Dabei müssen sie froh sein, daß sie überhaupt leben, denn ihre Eltern sind reich und können sich drei Mitgiften leisten, sie haben davon abgesehen, ihre Töchter zu töten bei der Geburt, sie mit ungeschältem Reis zu füttern und zu ersticken, sie zu ersticken mit einem ins Wasser des Sees getauchten Tuch. Und so versuchen die Töchter, sich zu freuen mit ihren verzerrten, schönen Gesichtern, und die Jüngste wirft sich weinend ihrem Vater an die Brust, vergräbt den Kopf in seinem Hemd, umklammert ihn. Doch er sieht gar nicht hin, tätschelt mechanisch ihr zuckendes Schulterblatt, sieht lachend hinüber auf sein neues, erwünschtes, sein einziges wertvolles Kind und ist glücklich dabei.

hinauf